Die Customer Experience Challenge

Die Customer Experience Challenge

Unternehmen, die ihren Kunden über die gesamte Customer Journey an allen Touchpoints ein positives Kundenerlebnis bieten, sind im Wettbewerb erfolgreicher als Mitbewerber, die dies nicht tun. Das belegen aktuelle Studien und zahlreiche Cases. Deshalb setzt sich der Customer-Experience-Ansatz weltweit durch und wird auch im D/A/CH-Raum sukzessive bestimmend.

Warum bildet sich in Rom, im Land der „Barista“, vor einem bestimmten Café eine lange Schlange geduldig wartender Kunden? Diese Frage bewegte den Nestlé-Mitarbeiter Eric Favre im Jahr 1975 bei einer Reise in die Ewige Stadt und weckte seine Neugier. Bei genauem Hinsehen erkannte Favre, dass der Espresso schlicht großartig war und den Menschen in der chaotischen Großstadt eine kleine, genussvolle Auszeit bot. Kaffeekonsum wurde also zum emotionalen Erlebnis. Dieses Geschäftsmodell musste sich doch nach dem Motto „Italienischer Espresso für Otto-Normalverbraucher“ auf die Konsumgüterbranche übertragen lassen? Und der Schweizer mit der markanten Nase bewies den richtigen Riecher. Er erfand Nespresso. Das Prinzip: hochwertigen Kaffee in Fünf-Gramm-Aluminiumkapseln verpacken und in stylischen Maschinen zum Italo-Kaffeegenuss aufbrühen. Das Geheimnis: während des Brühens dezent Luft zuführen. Ideal für zu Hause, das Büro und die Gastronomie. Doch als der Trendsetter seinen Vorgesetzten den ersten Prototyp vorführte, verboten sie ihm, weiter an dem Projekt zu arbeiten. „Sie hatten Angst, dass das Produkt dem Nescafé Konkurrenz machen würde“, erinnert sich Favre in seinem Buch Unternehmerische Kreativität. Als Nespresso dann trotz aller Widerstände im Jahr 1986 in Japan, Italien und der Schweiz in die Regale kam, floppte die Markteinführung. Nur wenige Konsumenten waren bereit, die recht kostspieligen Kaffeemaschinen und die nicht minder teuren Kapseln zu kaufen.

Wir verkaufen nicht nur Kaffee, wir verkaufen ein Erlebnis. Gerhard Berssenbrügge,
ehemaliger Europa-Chef Nespresso, dann Vorstandsvorsitzender Nestlé Deutschland AG

Davon ließ sich die Nestlé-Tochter Nespresso aber nicht entmutigen, sondern arbeitete intensiv an der Customer Experience. „Für das Hervorrufen von Emotionen und eines Gefühls von Exklusivität braucht es ein umfassendes Geschäftsmodell“, führte Vojtech Kubin in seinem 2010 an der Hochschule St. Gallen (HSG) am Institut für Marketing (IfM) publizierten Best Case „Nespresso“ aus. Das Unternehmen hat dafür zahlreiche Touchpoints eingerichtet, die den Mitarbeitern Gelegenheit geben, mit den Kunden in einen Dialog zu treten. Erst der ermöglicht es, die tatsächlichen Kundenbedürfnisse zu erfassen und das Angebot zielgruppenspezifisch zu optimieren. Von entscheidender Bedeutung wurde der „Nespresso Club“. Über die Online-Plattform wird heute der größte Teil des Kapselvertriebs abgewickelt und das gut besetzte Customer Relationship Center pflegt den Kontakt zum Kunden. Nützlicher Zusatzeffekt: Der Online-Kanal liefert wertvolle Daten für individuelle Marketingaktionen. Ein weiterer wichtiger Baustein in der Markenkommunikation sind seit dem Jahr 2000 die edel ausgestatteten Boutiquen. In denen verkauft der unangefochtene Marktführer zwar nur ein Drittel aller Kapseln, der Kunde tritt aber in direkte Interaktion mit der luxuriösen Nespresso- Welt. So tauscht sich der Kaffeekenner in der Boutique mit fachkundigem Personal aus und degustiert im gehobenen Ambiente „Gran Crus“ oder auch saisonale Spezialitäten. Richtig verwöhnt wird der Kunde, wenn er in der Boutique seine Lieblingskaffees gewählt hat und die Kapseln am Do-it-yourself-Terminal mit seiner Kundenkarte bezahlen will. Dann erhält der Freund des feinen Kaffeegenusses en passant ein auf seinen individuellen Geschmack zugeschnittenes Zusatzangebot. Ein Service von Nespresso, den die Kunden zu schätzen wissen – und der den Umsatz weiter ankurbelt.

In truth, CX is the sum of all the moments and interactions a consumer has with a company (...). It’s the company’s promise, brand, partners, products and everything and every person who touches the customer in some way. Brian Solis, Altimeter Group

Nach Kubin ist es den Kaffeeröstern gelungen, eine „Nespresso Community“ zu kreiren, die die freiwillige Kundenbindung höchst effizient stärkt. Die Marke gewann so über die Jahre das Vertrauen der Verbraucher und punktete mit hoher Qualität sowie der Exklusivität des Produkts. Obwohl der Kilopreis bei Nespresso zwischen 60 und 80 Euro liegt, ist das Unternehmen heute in mehr als 60 Ländern vertreten. Nur zum Vergleich: Ein Kilo Jacobs Krönung kostet rund 12 Euro. Weltstars wie George Clooney und Jack Black treten in Werbekampagnen auf und schwärmen von „Kaffeekunst“ und „Nespresso-Momenten“. Die Kaffeebohnen stammen natürlich aus verantwortungsvollem Anbau und die Kapseln sind recycelbar. Auch wenn das Patent auf die Nespresso-Kapseln zwischenzeitlich ausgelaufen ist, behaupten die Schweizer ihre Spitzenposition gegen zahlreiche Nachahmer.

Customer Experience − Frage des Alles-oder-Nichts

Was sagt uns das? Ganz einfach: Nespresso belegt eindrucksvoll, dass die konsequente Ausrichtung an Kundenbedürfnissen und die Kreation von Customer Experience ein oder besser der entscheidende Erfolgsfaktor ist. „Customer Experience ist heute eine Frage des Allesoder- Nichts. Den Status quo auf- rechtzuerhalten, ist keine Option mehr“, so die überdeutliche Ansage von Shantanu Narayen, Adobe-CEO, vor über 5000 Zuhörern auf der großen Bühne beim Opening des Adobe EMEA Summit 2017 in London. Mit diesem klaren Statement fokussierte Narayen den Mega-Trend in der digitalen Transformation. Für Unternehmen, die im weltweiten Wettbewerb nachhaltig bestehen wollen, reicht die reine Messung von Kundenzufriedenheit an den wesentlichen Touchpoints „Kauf“ und „Service“ nicht mehr aus. Wenn Märkte transparent, Markenwerte volatil und Produkte austauschbar werden, dann wird das Kundenerlebnis zur entscheidenden Erfolgskomponente. Und der digital kompetente Customer ist verwöhnt. Er erwartet seine individualisierten Benutzererlebnisse, die auf seine Kundenwünsche sowie seine Lebenssituation zugeschnitten sind. User wollen mit ihren Marken interagieren – wie sie möchten, wann sie möchten und wo sie möchten. Eine Erwartungshaltung, die sich im Zuge der fortschreitenden digitalen Transformation umso mehr verstärkt, als Kunden mit neuen Technologien in Berührung kommen. Mobile Anwendungen sind längst „State of the Art“. Dabei nimmt die Reise in die digitale Zukunft gerade erst richtig Fahrt auf. Durch „Virtual Reality“, „Augmented Reality“, „Artificial Intelligence“, „Wearables“ und „Internet of Things“ eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten. Der Customer erschließt sich intuitiv und mit der dem Menschen ureigenen Neugier ganz neue Welten. Der Entdecker in uns bekommt bisher nicht gekannten Nutzwert und lernt diesen zu schätzen. Kein Wunder also, dass Kundenzentrierung und die damit verbundene „Customer Experience“ nach aktuellen Umfragen für gut zwei Drittel der Unternehmenslenker höchste strategische Bedeutung haben. In den Vorstandsetagen der Großkonzerne setzt sich wie im Management der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) die Überzeugung durch, dass ein effizientes Customer Experience Management über Sein oder Nichtsein entscheidet.

Emotion is the new currency of experience. John Mellor, Adobe Vice President of Strategy

Customer Experience Management ist also kein Buzzword der Marketing- Gurus, sondern ein strategischer Ansatz, der alle Prozesse innerhalb einer Organisation umfasst, die für den Kundenkontakt relevant sind. Im Kern geht es darum, Kundenbeziehungen im gesamten Kundenlebenszyklus gewinnbringend so zu managen, dass Customer loyal bleiben, mehr kaufen und Marke wie Produkte weiterempfehlen. Der Kunde soll also zum aktiven Markenbotschafter und Multiplikator bei der Neukundengewinnung werden. Klingt gut, erfordert von den Unternehmen aber eine gelebt kundenzentrierte Denkweise. Jeff Bezos, CEO von Amazon, sieht seine Kunden wie geladene Gäste auf seiner Party. Als guter Gastgeber will er seinen Gästen einen unvergesslichen Abend bieten. Genau diesen Anspruch hat Bezos auch als E-Marketer: Er ermöglicht Kunden und Besuchern ein Online- Shoppen mit Erlebnischarakter.
Über alle Branchen hinweg ist das Customer Experience Management eine echte Herausforderung. Denn die meisten Unternehmen entwickelten ihre Vertriebsstrategie von Single-Channel, zu Multi-Channel und letztlich zu Omni-Channel weiter. Damit entstanden und entstehen auch weiterhin immer neue Touchpoints mit den Kunden. Zudem sind die Produktportfolios der Global Player heute so stark diversifiziert wie nie zuvor. Unternehmen müssen ihr Customer Experience Management folglich über alle Berührungspunkte mit dem Kunden und über alle angebotenen Produktlinien optimieren. Die Challenge besteht so darin, alle Touchpoints in ein holistisches und nahtloses Kundenerlebnis zu integrieren. Ein Unterfangen, das strategische Ressourcen erfordert.
Machen wir uns also nichts vor. Wer in der Experience Economy bestehen will, die B. Joseph Pine II und James H. Gilmore 1998 erstmals in ihrem gemeinsam verfassten Artikel The Experience Economy beschrieben, muss Geld in die Hand nehmen. In der effizienten Umsetzung des strategischen Ansatzes teilweise sogar richtig viel Geld. Das sollte jedoch kein Anlass zur Sorge sein. Denn schon heute belegen seriöse Studien den hohen Return on Investment von Spendings in das Customer Experience Management. So hat Forrester’s Customer Experience Index and Watermark Consulting die Performance von börsennotierten Unternehmen von 2007 bis 2015 in den USA analysiert. Verglichen wurden Customer Experience Leaders mit Customer Experience Laggards und dem S&P 500 Index. Dabei definierten die Marktforscher Customer Experience Leaders als Unternehmen, die Kundenbedürfnisse sehr effizient bedienen und den Kundenkontakt einfach und angenehm gestalten. Über den Zeitraum von sieben Jahren zeigt sich, dass sich kundenzentrierte Unternehmensführung auszahlt. Denn die Leaders performten mit einem Zuwachs von 77,7 Prozent deutlich besser als der S&P 500 Index mit nur 51,5 Prozent. Customer Experience Laggards mussten in der Zeitspanne sogar einen Verlust von 2,5 Prozent hinnehmen.

Ausrichtung auf CX-Strategie zahlt sich aus

Dass sich die konsequenteAusrichtung auf CX-Strategie und deren Umsetzung auszahlt, untermauert auch die aktuelle Studie „Design Led Firms Win The Business Advantage“ von Forrester Consulting. Überprüft wurde die wettbewerbsrelevante These, dass die Einbettung von Design- Methoden in die digitale CX-Strategie mit einem konkreten und messbaren Geschäftsvorteil einhergeht. Dafür wurden in qualitativen Befragungen die Faktoren untersucht, die eine differenzierte Design- Praxis bestimmen, sowie der Einf luss dieser Faktoren auf die Geschäftsergebnisse digitaler Kundenerlebnisse. Um die Erkenntnisse aus den qualitativen Befragungen zu vertiefen, führte Forrester eine quantitative Umfrage unter 339 Entscheidern für digitale Kundenerlebnisse in Unternehmen in den USA, im Vereinigten Königreich, in Frankreich, Deutschland, Südkorea, Australien/ Neuseeland und Japan durch.
Die Untersuchung belegt, dass Unternehmen, die „Design Thinking“ in ihrer CX-Strategie berücksichtigen, – von Forrester Consulting als Design-orientiert bezeichnet – greifbare Geschäftsvorteile erzielen. Darüber hinaus stellten die Marktforscher fest, dass diese Vorteile umso deutlicher sichtbar werden, je mehr Design in die digitale CX-Strategie einfließt. So berichten 50 Prozent der Design-orientierten Befragten von zufriedeneren und loyaleren Kunden aufgrund des stärkeren Fokus auf Design. Satte 46 Prozent melden größeren wirtschaftlichen Erfolg und Gewinn dank des Einsatzes ausgereiften Designs. Und immer noch mehr als zwei Fünftel (41 Prozent) der Design-Spitzenreiter berichten zudem von größeren Marktanteilen aufgrund der Design-Schwerpunkte in der eigenen Arbeit.

Coca-Cola Experience

In der Quintessenz bedeutet das, dass starkes Design zu starkem Content führt. Der wiederum legt das Fundament für jene Customer Experience, die Kundentreue und wachsende Umsätze erzeugt. James Sommerville, Global VP Design bei Coca-Cola, unterstreicht, dass die Geschichte seiner Firma von der Idee bestimmt ist, ein Experience-Unternehmen zu sein. Und gleiches gelte für die Zukunft. „Obwohl sich die Dinge praktisch jeden Tag und jede Woche ändern, hat sich Coca-Cola in seiner 131-jährigen Geschichte nicht grundsätzlich gewandelt“, betont Sommerville. Die Herausforderung besteht allerdings darin, im Zeitalter der Customer Experience relevant zu bleiben. Dafür müsse das Design ins Zentrum des Schaffens rücken.
Kein Lippenbekenntnis, sondern strategische Vorgabe. So bat das Unternehmen 100 Designer beauftragt, zur Feier des 100. Geburtstags der ikonischen Cola-Flasche 100 klassische Poster aus der Firmengeschichte neu zu gestalten. Ziel der Initiative war es nicht nur, neue Talente zu finden. „Es ging auch darum, sich von den strikten Regeln rund um die Markenidentität frei zu machen“, hebt Sommerville hervor. Coca-Cola hat mit der Aktion Künstlern eine öffentliche Bühne gegeben, und Designer wie Ion Lucin, Neville Brody oder Coran Design sind so zu „Rising Stars“ geworden. Wie Customer Experience in der Praxis funktioniert, zeigt auch der große Erfolg der personalisierten Cola-Dosen. „Das Firmenlogo wurde durch den jeweiligen Kundennamen eingetauscht, damit die Customer ihre individuelle Coke mit Freunden und Familie teilen. Eine bleibende Erinnerung und ein tolles Kundenerlebnis“, weiß Sommerville durch die Interaktion mit zufriedenen Kunden.

You have to start with the customer experience and work back toward the technology – not the other way round. Steve Jobs, ehemaliger CEO von Apple

Ein absoluter Knaller im Sinne der Customer Experience war die Kampagne mit coolen Coca-Cola Vending Machines. Eine gab in der Mensa einer US-Universität neben Gratis-Softdrinks auch Pizza, Blumen und Monster-Sandwiches aus. Für die Studenten ein Riesenspaß, für die Brausehersteller jede Menge Postings in den sozialen Medien. In Stockholm erhielt der eine Gratis- Cola, der dem Automaten sein liebstes Weihnachtslied vorsang. Kundenerlebnis mit System.

 

Customer Experience Management im D/A/CH -Raum

In Zeiten der digitalen Transformation setzt sich das Customer Experience Management international als Erfolgsmodell durch. Doch im D/A/ CH-Raum etabliert sich der strategische Ansatz nur zögerlich. Warum? Zunächst einmal folgt die Digitalisierung in Zentraleuropa einem etwas anderen Drehbuch als etwa bei Unternehmen aus dem Silicon Valley. Die Industriestruktur ist schlicht anders. So ist beispielsweise Deutschland das Land der Discounter, das Land der Industrie 4.0. Die Customer Experience hat noch nicht den Stellenwert wie in anderen führenden Industrienationen. In „Good old Germany“ findet sich global der höchste Fertigungsanteil. Das bedeutet, dass Unternehmer zwischen Flensburg und Garmisch mit ihrer strategischen Ausrichtung zum Großteil noch in der Welt von physischen Produkten leben. Das Spaltmaß prägt den Wirtschaftsraum maßgeblich und war bisher ja auch die sichere Basis für wirtschaftlichen Erfolg. Konsequenz: „Never change a winning Team.“ Das Denken im Management kreist nach wie vor um technisches Know-how, bewährte DIN-Vorschriften, qualitativ hochwertigste Produkte, weltweit zuverlässigen und kompetenten Service sowie das Pricing. „Made in Germany“ in Reinkultur. Und die Digitalisierung? Wird durchaus als feine Sache verstanden. Files jeder Form lassen sich schnell und kostengünstig speichern, teilen, verwalten, archivieren und wiederfinden. Zweifellos sparen Unternehmen durch die Optimierung von Prozessen Kosten. Doch diese Denke ist stark von der Innenansicht geprägt und von organisatorischen Effizienzgesichtspunkten dominiert. Die Digitalisierung ist nicht nur ein Trend wie viele andere, sondern eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft. Das Ausmaß der globalen Umwälzungsprozesse schätzen Experten schon heute gravierender ein als jene während der Industrialisierung. Die Digitalisierung braucht in Zentraleuropa vielleicht etwas mehr Zeit, dürfte dann aber mit umso mehr Vehemenz einsetzen. Auch künftig bleiben physikalische Produkte physikalisch, sie werden aber durch digitale Kundenerlebnisse und digitalisierte Wertschöpfungsketten angereichert.

Your most unhappy customers are your greatest source of learning. Bill Gates, Gründer Microsoft

Für die vom Erfolg verwöhnten Player in Zentraleuropa geht es heute schl icht darum, die digitale Transformation nicht im wahrsten Sinne des Wortes „zu verpennen“. Das wird Politik und Wirtschaft besonders in Deutschland allmählich klar. „Unser Land verschläft den digitalen Wandel“, beklagt Matthias Wahl, Präsident des Bundesverbands der digitalen Wir tschaf t (BVDW). „Dabei ist die Digitalisierung das zentrale Zukunftsthema. Sie entscheidet über wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und darüber, wo in Europa Arbeitsplätze entstehen.“ Zur jährlichen Indexerstellung untersucht die EU-Kommission den Stand der Digitalisierung in fünf Dimensionen: Verfügbarkeit und Nutzung schneller Zugänge, allgemeiner Kenntnisstand, Internet-Nutzungsverhalten der Bevölkerung, Digitalisierung von Unternehmen und Verbreitung von eGovernment- Angeboten. Aus den fünf Einzelergebnissen wird ein Gesamtwert errechnet, der den digitalen Entwicklungsstand der EU-Länder vergleichbar macht. Deutschland liegt mit einem Wert von 0,56 nur knapp über dem EU-Durchschnitt (0,52).

 

Deutschland auf einem Niveau mit Malta

„Wir stehen auf einem Niveau mit Malta und Litauen, Österreich hat uns bereits abgehängt“, warnt Wahl. „Es kann doch nicht der Anspruch von Europas größter Volkswirtschaft sein, bei diesem wichtigen Thema irgendwo im Mittelfeld zu verschwinden. Wir werden mittelfristig nicht umhin kommen, sämtliche digitalen Kompetenzen in einem zentralen Ministerium zu bündeln. Wir müssen die Gestaltungskompetenz an einer Stelle konzentrieren.“
Nach dem Innovationsindikator 2017 der acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und dem Bundesverband der deutschen Industrie (BDI), belegt Deutschland den Platz vier unter den 35 führenden Industrienationen. Der Innovationsindikator erfasst die Innovationsbedingungen am Wirtschaftsstandort Deutschland und vergleicht sie in einem Ranking in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Staat und Gesellschaft sowie in einem Gesamtindikator mit den weltweit führenden Industrieländern und aufstrebenden Staaten.
Die gute Nachricht: Deutschland gehört noch zu den innovationsstärksten Ländern der Welt – liegt aber deutlich hinter Spitzenreiter Schweiz sowie Singapur und Belgien zurück. Von den USA, Großbritannien und Südkorea kann sich die Bundesrepublik nicht wesentlich abheben. Anlass zur Besorgnis gibt aber ein weiterer Aspekt: Im erstmals erhobenen Digitalisierungs-Indikator liegt Deutschland deutlich hinter anderen Industrienationen abgeschlagen nur auf Rang 17. „Deutschland muss im Innovationswettbewerb deutlich zulegen“, sagt BDIPräsident Dieter Kempf. „Die Politik muss Investitionen in Innovationen vorantreiben und zügig die steuerliche Forschungsförderung einführen.“ Die gäbe es bereits fast überall in Europa. „Ein Muss für Digitalisierung und Industrie 4.0 ist, den Breitbandausbau voranzutreiben und den digitalen europäischen Binnenmarkt zu verwirklichen“, fordert Kempf.

Weckruf ins Dornröschenschloss

Den vielbeachteten Weckruf ins Dornröschenschloss lieferte Christoph Keese zum Jahresende 2016 mit seinem preisgekrönten Bestseller Silicon Germany – Wie wir die digitale Transformation schaffen. Das sachlich gehaltene Buch zeigt schonungslos und kompetent, was die digitale Transformation in der unternehmerischen Praxis für weitreichende Folgen hat. Gutes Beispiel ist der Heizungsbauer Viessmann. Der Kunde begnügt sich heute nicht mehr mit einer hochwertigen Therme, guten Heizwerten und hervorragendem Service. Er fordert darüber hinaus die bedienfreundliche Steuerung seiner Heizung, um die Klimatisierung seiner Wohnung situativ passend auszusteuern. Und das muss natürlich über das Internet zu jeder Zeit und von jedem Ort aus funktionieren. Niemand braucht wohlige Wärme in der leeren Wohnung. Kommt die Familie aber früher am Tag nach Hause oder kehrt aus dem Urlaub ins Heim zurück, soll es bei der Ankunft warm und gemütlich sein. Denn der Kunde will Customer Experience – Wohnkomfort und Heizkosten sparen. Liefert der deutsche Platzhirsch nicht, schlägt die Stunde für junge, disruptive Unternehmen wie die Firma Nest aus Palo Alto. Die stellt Thermostate und Heizungssteuerungen her, die den Energieverbrauch senken und darüber hinaus Daten an die Energieversorger liefern. Interessantes Detail: Googles Mutter Alphabet hält eine Beteiligung an Nest. Geschickt positioniert sich der Newcomer zwischen die Hersteller von Klimageräten und deren Kunden. Reagieren die europäischen Produzenten nicht mit kundenorientierten Angeboten und der gewünschten Customer Experience, wandert die Klientel ab. Doch Viessmann hat die Gefahr erkannt und reagiert professionell mit eigenen Lösungen.

Starre Produktfokussierung bricht auf

Um im Wettbewerb zu bestehen, müssen sich die Player also drängenden Fragen stellen. Wie sieht der Customer das Unternehmen? Sind die Kundenbedürfnisse grundsätzlich bekannt und wenn ja, wie werden sie im Unternehmen und in der Produktentwicklung berücksichtigt? Wie wird das Kundenverhalten beobachtet, und werden Produkte wie Dienstleistungen an die sich verändernden Wünsche der Klientel angepasst? Hier zeichnet sich in der Experience Economy auch im D/A/ CH-Raum ein massiver Wandel ab. Die starre Produktfokussierung bricht auf. Autohersteller wie Audi, Porsche, Mercedes oder VW, die heute vom Verkauf ihrer physikalischen Produkte leben, werden zukünftig eine ganze Palette von Dienstleistungen anbieten. Vielleicht werden sie dann irgendwann gar keine Autos mehr verkaufen, sondern „Einheiten“ nur noch als Dienstleistung anbieten. Aus Sicht des Kunden formuliert: Der Trend geht in vielen Bereichen hin vom Besitz zum Erlebnis. Menschen besitzen nicht mehr einfach nur ein Auto, sondern erleben Mobilität. Deshalb bestehen Challenge und Chance auch im D/A/CH-Raum darin, den Kunden aktiv einzubinden und einen langfristigen Dialog mit ihm aufzubauen.

Zwilling – E-Commerce- Strategie mit allen Marken unter einem Dach

Was im Global Business notwendig ist, erkannte die traditionsreiche Zwilling J. A. Henckels AG frühzeitig. Rückblick: Bereits im Jahr 1731 ließ der Schmied Peter Henckels den heute weltbekannten Zwilling als Handwerkszeichen in die Solinger Messermacherrolle eintragen. Er setzte damit den Grundstein für ein Unternehmen, das mit bekannten Marken wie Zwilling, Staub, Miyabi, Demeyere oder BSF rund um den Erdball in über 100 Ländern vertreten ist. Das weiße Symbol auf rotem Grund steht heute bei der Zwilling J. A. Henckels AG für anspruchsvollen Lebensstil und ausgefallenes Design. Ob hochwertige Küchenprodukte, Bestecke oder Beauty-Instrumente: Der Erfolg einer der ältesten Marken der Welt, die mit ihren innovativen Produkten schon sehr früh Ländergrenzen überschritt, basiert bis heute vor allem auf einer hohen Kundenzufriedenheit. Diese Tradition wollte der Markenhersteller aus der Klingenstadt Solingen, der mit weltweit rund 4000 Mitarbeitern einen Umsatz von 763 Millionen Euro erzielt und Produktionsstandorte in sieben Ländern unterhält, auch in seinem Webauftritt bewahren. Deshalb wurde das Content Management umgestellt und ein responsives Webdesign realisiert. Ziel des komplexen Infrastrukturprojekts war es, eine neue E-Commerce- Strategie mit allen Marken unter einem Dach zu etablieren und die Systeme international zu vereinheitlichen.
Die weltweite Struktur von Zwilling im Internet ist historisch gewachsen, war sehr heterogen und wurde immer komplexer: Einzelne Länder oder Marken arbeiteten mit verschiedenen Content-Management- und Shop-Systemen, es gab wenig gestalterische Einheit und keine gemeinsame E-Commerce- Strategie. „Mit unserem neuen Ansatz sollen nun alle digitalen Kanäle gezielt zusammenwirken und den Kunden von der Marke zum Kauf führen – und das auf der ganzen Welt“, sagt Daniela Zbick, Head of Online Marketing bei der Zwilling J. A. Henckels AG in Solingen. Der Küchenzubehörspezialist verfolgt eine klare Multi-Channel-Strategie, bei der der Kunde auf allen Kanälen medienadäquat und mit der passenden Information abgeholt wird. „Wir müssen dem Kunden die Kaufentscheidung an jedem Touchpoint so einfach wie möglich machen, egal ob er sie online oder offline in die Tat umsetzt“, bekräftigt die Online-Marketing-Verantwortliche den Ansatz der Solinger. Digital Marketing gewinne vor diesem Hintergrund auch für mittelständische Unternehmen zunehmend an Bedeutung, um die gesamte Customer Journey abzudecken.

Winterhalter – Chancen von Industrie 4.0

Die große Chancen von Industrie 4.0 und Customer Experience nutzte das in der dritten Generation inhabergeführte Familienunternehmen Winterhalter mit Hauptsitz in Meckenbeuren am Bodensee. Produktionsstandorte hat der Global-Player der Großküchenbranche auch in Endingen (Deutschland) und in Rüthi (Schweiz). Der klassische Mittelständler ist Spezialist für gewerbliche Spülsysteme und versteht die Digitalisierung als zentralen Entwicklungsschritt. Deshalb bietet der Spülspezialist umfassende Lösungen über die Spültechnik hinaus und beschäftigt sich mit innovativer Kommunikationstechnik und praxisorientierten Softwarelösungen. „Mit Connected Wash beginnen wir systematisch Informationen zu ermitteln, die dem Kunden bessere Entscheidungsfähigkeit und letztendlich Kosteneinsparungen bringen. Denn eines ist sicher: Nur wenn wir wissen, was im Laufe eines Spültages passiert, können wir unsere Kunden perfekt beraten und Betriebsabläufe optimieren“, unterstreicht Thomas Pfeiffer, Geschäftsführer Winterhalter Deutschland GmbH. Der digitale Ansatz des Unternehmens steht für eine vernetzte Spülmaschine, die für mehr Sicherheit und mehr Effizienz in der Spülküche sorgt. Die Einheiten sind per LAN oder W-LAN vernetzt und senden Maschinendaten in Echtzeit an einen Server. Mittels Computer, Tablet oder Smartphone haben die Kunden Zugriff auf die „Connected Wash App“. Diese bietet einen schnellen Überblick über den Status und alle wichtigen Daten der Maschinen rund um die Uhr und von überall auf der Welt. Im Bereich Sicherheit werden Maschineninformationen inklusive Anleitung zur Behebung von Fehlermeldungen dargestellt. Sobald eine Maschine einen kritischen Zustand meldet, erhält der User eine Push-Nachricht auf das Smartphone oder Tablet. Dadurch können Kunden auf Störungen sofort reagieren und ihre Betriebssicherheit erhöhen.

Burberry − Integration physischer und digitaler Touchpoints

Wohin die Reise geht, zeigt das Modeunternehmen Burberry. Das Traditionslabel ist ein Best Case für die nahtlose Integration physischer und digitaler Touchpoints – Zauberformel für erfolgreiches Customer Experience Management. Lange Jahre blieb das Unternehmen mit seiner schwach positionierten Marke hinter den betriebswirtschaftlichen Erwartungen zurück. Doch dann entwickelte sich Burberry in einer rund siebenjährigen Transformationsphase zu einer der erfolgreichsten Luxusmarken und verdreifachte den Umsatz innerhalb von nur fünf Jahren. Dazu definierten die Briten zu allererst, wie die erstklassige Customer Experience aussehen sollte – online und offline. Angela Ahrendts, frühere CEO von Burberry und dann Senior Vice President für Einzelhandel und Online-Shops bei Apple, beschrieb in einem Interview den Londoner Flagship Store: „Burberry Regent Street bringt unsere digitale Welt zum ersten Mal in einem physischen Raum ins Leben, wo Kunden jede Facette der Marke durch umfassende Multimedia- Inhalte genau wie Online erleben können. Durch die Türen zu laufen ist genau wie unsere Website zu besuchen.

There is only one boss. The customer. Sam Walton, Gründer Walmart

Es ist die Burberry-Welt Live.“ Heute sind in den Burberry-Geschäften viele Produkte durch RFID (Radio-Frequency Identification) gekennzeichnet. Das ermöglicht dem Customer, mehr über die Herstellung zu erfahren oder beispielsweise ein Modenschauvideo abzurufen, in dem ein Topmodel genau dieses Teil in Kombination mit weiteren Artikeln trägt. Mit seiner neuen Markenausrichtung fokussierte Burberry die Zielgruppe der Millennials und schuf für die verjüngte Kundschaft die Online-Plattform „Art of the trench“. Auf der können Kunden ihr individuelles Styling zur Schau stellen, indem sie Bilder von sich auf Instagram und Piterest posten. Endlos viele Fotos wurden hochgeladen, geliked und kommentiert. Fast beiläufig bewarb Burberry die gezeigten Produkte – ein subtiler und zugleich vielversprechender Ansatz.

 

Nordstrom – Einkauf über Instagram

Klotzen, nicht kleckern könnte in Bezug auf Customer Experience Management das Motto der amerikanischen Kaufhaus- und Versandkette Nordstrom sein. Die hat in den letzten 25 Jahren über eine Milliarde US-Dollar investiert, um eine kundenorientier te Mehrfachzugr iff- Infrastruktur aufzubauen. Zu den Investitionen in die Kaufhäuser gehörte beispielsweise die Implementierung eines neuen Point-of-Sale- Systems, das zusätzlich zu weiteren Features über eine Personal-Book- Software verfügt. Die ermöglicht es den Angestellten, das Kundenverhalten der einzelnen Kunden online zu verfolgen und passende Angebote zu pushen. Zudem führte Nordstrom eine mobile Kasse ein, die es Customern erlaubt, bequem per Handy zu bezahlen. Die Verkaufsangestellten werden dadurch entlastet und der Einkauf lässt sich einer individuellen Person zuordnen.

The people we hire as designers are innovators, and those people don’t listen to what their boss tells them to do. Simone Cesano, Senior Director of Design Operations, Adidas

Begeisterung lässt sich bei den in Sachen Dienstleistung mehr als verwöhnten Amerikanern am ehesten durch hervorragenden Service wecken. Deshalb investierte Nordstrom massiv in den Online-Handel. Zum einen in die Nordstrom-App zum anderen in die Online-Präsenz in Social-Media-Plattformen. Ein Highlight: der Cloud-basierte Beratungsservice für Männerkleidung mit anspruchsvollen und personalisierten Angeboten für verschiedene Kundensegmente. Doch damit nicht genug: Um den Kunden über alle Touchpoints eine emotionale Customer Experience zu bescheren, bietet Nordstrom seinen Kunden als einer der ersten Einzelhändler an, Artikel direkt auf Instagram zu kaufen. Durch die Integration von Website und App in das Bestandsmanagement- System können Customer immer sehen, ob gewünschte Produkte in der Nähe verfügbar sind. Ist dies nicht der Fal l, können sie ihre Wunschartikel online oder in einem anderen Laden bestellen. Zudem hat Nordstrom vor Kurzem „Kerb-Side Collect“ eingeführt. Kunden können so Produkte online bestellen und sie eine Stunde später vor dem Geschäft ihrer Wahl abholen.

 

Fazit − Customer Experience „The next big thing“

Die Liste gelungener Customer-Experience- Management-Beispiele ließe sich beliebig fortführen. Doch schon die dargelegten Cases sind starke Indikatoren dafür, dass die Fokussierung auf die Customer Journey, die Touchpoints und das individuelle Kundenerlebnis für Unternehmen in der „Experience Economy“ zukünftig der strategische Ansatz sein dürfte. Eine Erkenntnis, die sich international wie im D/A/CH-Raum sukzessiv durchsetzt. Denn erst durch konsequentes Customer Experience Management wird die positive Produkterfahrung zum emotionalen nachhaltigen Markenerlebnis.

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