Vertriebsorientierung als Wettbewerbsfaktor: Fallstudie Würth

Vertriebsorientierung als Wettbewerbsfaktor: Fallstudie Würth

Wie kann ein Unternehmen in umkämpften Märkten einen strategischen Wettbewerbsvorteil aufbauen, wenn eine Differenzierung über das Produkt oder die Dienstleistung nicht möglich ist?

Diese Frage stellte sich die Würth-Gruppe früh. Typische Würth-Produkte, wie Schrauben oder Befestigungstechnik, sind austauschbar. Dazu Reinhold Würth: „Ich habe innerhalb von rund 60 Jahren aus einem Zwei-Mann-Betrieb ein Unternehmen mit 60 000 Beschäftigen aufgebaut – und dies mit Schrauben und Befestigungsmaterial! Das sind ja keine besonderen Produkte, die man nun unbedingt von Würth bräuchte. In jedem Eisenwarenladen bekommen Sie Schrauben. Der Vertrieb ist hier der Schlüssel für den Erfolg.“ Vor einer ähnlichen Herausforderung stehen heute viele Unternehmen – auch solche, die sich noch vor wenigen Jahren durch hervorragende Leistungen im Markt differenzieren konnten. Diese Unternehmen suchen heute nach neuen Ansätzen für echte Wettbewerbsvorteile. Ein vielversprechendes Thema ist dabei der Vertrieb. In diesem Beitrag wird untersucht, wie der Vertrieb bei Würth aufgebaut und geführt wurde und wird. Es geht darum, die relevanten Managementstellhebel aus der Fallstudie abzuleiten und anhand von Beispielen zu erklären. Abschließend werden allgemeine Empfehlungen für andere Unternehmen abgeleitet. Grundlage der Fallstudie waren verschiedene Gespräche mit verantwortlichen Führungskräften des Unternehmens sowie ein ausführliches Interview mit Reinhold Würth am 13.07.2009 in den Räumen der Würth Management AG in Rorschach (Schweiz). Zusätzliche Recherchen und Analysen ergänzten die Fallstudienarbeit.

Hintergrund zum Unternehmen Würth

Das Unternehmen Würth wurde 1945 als Adolf Würth GmbH & Co. KG in Künzelsau gegründet. Nach dem Tod von Adolf Würth im Jahre 1954 übernahm Reinhold Würth, der heutige Vorsitzende des Stiftungsaufsichtsrates der Würth-Gruppe, die Geschäftsführung. Das Geschäft von Würth besteht im weltweiten Handel mit Befestigungs- und Montagematerial, Schrauben, Schraubenzubehör, Dübel, chemisch-technische Produkte, Möbel- und Baubeschläge, Werkzeuge, Maschinen, Installationsmaterial, Kfz-Kleinteile sowie Bevorratungs- und Entnahmesysteme. Würth beliefert international über drei Millionen Kunden (Kfz-Handwerk, holz- und metallverarbeitendes Handwerk, Baubetriebe, Industrieunternehmen) aus 300 Niederlassungen in Deutschland sowie über 400 Gesellschaften in 84 Ländern. Rund 58 000 Mitarbeiter arbeiten für Würth, ca. die Hälfte von ihnen im Verkauf. Seit dem Jahr 2000 steigerte das Unternehmen die Anzahl seiner Verkäufer um 60 Prozent.

Bedeutung des Vertriebs

2006 erhielt das Unternehmen den sogenannten „Selly“, einen Award des Deutschen Marketing-Verbands für Bestleistungen im Vertrieb. Die Begründung der Jury: Als Weltmarktführer für Montage- und Befestigungstechnik schreibt Würth eine konstante Wachstumsstory und konnte laut vorläufigem Konzernabschluss 2005 den Umsatz um 11,1 Prozent auf eine neue Rekordmarke von 6,89 Milliarden Euro steigern. Auch in Deutschland legte Würth zu, und zwar um 9,6 Prozent auf 2,77 Milliarden Euro. Bezeichnende Kennziffer für den Erfolg der Würth-Gruppe ist auch die Compound Annual Growth Rate, das durchschnittliche jährliche Wachstum des Umsatzes: Im Zeitraum zwischen 1954, dem Jahr, in dem Prof. Dr. h.c. Reinhold Würth das Unternehmen übernahm, und 2005 beträgt dieser Wert 25 Prozent. Die Jury führt diese Rekordleistungen auf das klare Bekenntnis zum Vertrieb zurück und beruft sich dabei auf eine Aussage von Prof. Dr. h.c. Reinhold Würth, dessen Lebenswerk der Ausbau der Würth-Gruppe vom regionalen Anbieter zum Global Player ist: „Die Kernkompetenz von Würth liegt zu 95 Prozent im Verkauf.“

Die Stellhebel für Vertriebsorientierung im Management der Würth-Gruppe

Analysiert man das Unternehmen, lassen sich die folgenden Aspekte herausarbeiten. Diese erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, weil das Unternehmen sich bei manchen Themen eher verschlossen zeigt. Dies ist verständlich, wenn man bedenkt, dass es sich um Aspekte handelt, die Würth einen Wettbewerbsvorteil verschaffen.

Wertschätzung des Vertriebs

Der Vertrieb ist die Königsdisziplin der Würth-Gruppe – die Verkäufer sind ihre wichtigsten Mitarbeiter. Das wurde auch schon bei dem Zitat zur Kernkompetenz deutlich. Auch wenn sich die Verantwortlichen nun verstärkt den Potenzialen der Marke Würth zuwenden oder andere Vertriebswege neben dem persönlichen Verkauf aufgebaut werden, um neue Wachstumsfelder zu identifizieren, ändert dies nichts an dem Grundprinzip. Die gesamte Organisation ist auf den Erfolg im Vertrieb ausgerichtet. In einer Zeit, in der viele Unternehmen nach mehr Effizienz und Effektivität in ihrer Marktbearbeitung suchen, steht Würth als Best-Practice- Beispiel für eine Konsequenz in der Umsetzung der Verkaufsorientierung. Innerhalb der Unternehmensfunktionen wird der Verkauf als „primus inter pares“ bezeichnet, der nach der Überzeugung bei Würth über Erfolg und Nichterfolg des Unternehmens entscheidet.

Fokus auf den persönlichen Verkauf zwischen Menschen

Das Unternehmen verweigert sich erfolgreich Management- Moden und setzt Technik und Medien nur dort ein, wo es sinnvoll erscheint. Der Direktvertrieb ist und bleibt das Kerngeschäft des Unternehmens. Dazu Reinhold Würth: „Das Geschäft ist sehr personengetrieben. Ich kenne Verkäufer, die 25 oder 30 Jahre lang den gleichen Kunden bedienen. Unsere Verkäufer werden dann nicht nur gute Bekannte, sondern in vielen Fällen sogar Freunde der Kunden. Da bauen sich häuDas Unternehmen verweigert sich erfolgreich Management- Moden und setzt Technik und Medien nur dort ein, wo es sinnvoll erscheint. Der Direktvertrieb ist und bleibt das Kerngeschäft des Unternehmens. Dazu Reinhold Würth: „Das Geschäft ist sehr personengetrieben. Ich kenne Verkäufer, die 25 oder 30 Jahre lang den gleichen Kunden bedienen. Unsere Verkäufer werden dann nicht nur gute Bekannte, sondern in vielen Fällen sogar Freunde der Kunden. Da bauen sich häufig echte Beziehungsgeflechte auf, die auch eine unglaublich hohe Wettbewerbsbarriere darstellen.“

Der Chef als oberster Verkäufer

Über die Rolle von Reinhold Würth als oberster Repräsentant und zugleich oberster Verkäufer gibt es viele Geschichten. Beispiel: Verkäufer des Unternehmens mussten lange Zeit damit rechnen, dass Reinhold Würth morgens in aller Frühe bei ihnen vor der Tür stand, um sich im Firmenfahrzeug neben seinen Mitarbeiter zu setzen und ihn den ganzen Tag überraschend zu begleiten. Wann, wo und wie oft er das tat, war nicht bekannt. Die Verkäufer taten also gut daran, immer gut vorbereitet zu sein und professionell zu agieren. Teilweise wird diese Praxis heute noch von der Geschäftsleitung gepflegt, aber nicht mehr in dem Ausmaß, wie früher. Dennoch, die Legende wirkt auch heute noch nach. Und Reinhold Würth zeigt von Zeit zu Zeit immer noch, dass er es kann: „Ich war im März dieses Jahres (2009) zu einem Besuch in Barcelona und habe, wie die anderen Geschäftsleitungskollegen auch, einen Verkäufer bei seinen Kundenbesuchen begleitet. Wir haben das Fünffache von dem umgesetzt, was die Verkäufer normal verkaufen. Was ein Verkäufer in einer ganzen Woche erwirtschaftet, haben wir an einem Tag gemacht! Das sind natürlich schöne Erlebnisse und das strahlt auf die gesamte Organisation aus.“ Man könnte hier von Schikane oder Bevormundung sprechen, aber es steckt eine Idee dahinter. Dazu Reinhold Würth: „Eine tolle Außendienstorganisation ist immer auch mit Buschtrommeln ausgerüstet. Solche Informationen sind innerhalb von Stunden durch und insofern kann man eine Mannschaft mit solchen Aktionen durchaus motivieren. Wenn ich mit 74 Jahren noch verkaufen gehe, dann kann ein Verkäufer oder Bezirksleiter um 07:30 Uhr nicht mehr im Bett liegen …“

Einfache Strukturen im Vertrieb

Würth ist in vielen Ländern mit Gesellschaften vertreten. Dennoch bleiben die Strukturen einfach oder werden sogar wieder vereinfacht. In Deutschland wurde erst vor kurzem eine ganze Managementebene im Außendienst herausgenommen. Jetzt ist das Land in zehn Regionen aufgeteilt und zusätzlich in Nord und Süd gesplittet, darüber stehen zwei Verkaufsleiter. Zusätzlich zur Außendienstorganisation werden sogenannte Verkaufsniederlassungen aufgebaut. In Deutschland gibt es z.B. über 300 solcher Niederlassungen. Kunden können dort das Material kurzfristig selbst abholen, um ihre Lagerbestände niedrig zu halten. Auch in diesen Fällen profi tiert der zuständige Verkäufer. Die Niederlassungen wurden also nicht parallel aufgebaut, sondern in die Verkaufsstrukturen integriert.

Einfache und wirksame Anreizsysteme

Anreizsysteme spielen im Vertrieb fast immer eine große Rolle. Auch hierzu gibt es bei Würth eine ganze Reihe von Geschichten. Beispiel 1: Man erzählt sich, dass Würth-Mitarbeiter zum Jahresende die eigene Garage voller Schrauben haben, weil sie ihre eigene Ware kaufen, um ihre Verkaufsziele zu erreichen. Beispiel 2: Es soll Fälle geben, in denen ein Außendienstmitarbeiter mit seinem aktuellen Dienstwagen, einem Passat, zum jährlichen Vertriebsmeeting fährt. Weil er seine Ziele nicht erreicht hat, muss er mit einem Golf wieder nach Hause fahren. Auch diese Geschichten tragen zur Bildung eines Mythos über die Verkaufspraxis bei, den es so in der Praxis vermutlich nur in Ausnahmefällen gibt. Das Anreizsystem bei Würth beruht u.a. auf drei Klassen von Verkäufern mit entsprechenden Automobilen: C-Seller fahren z.B. Ford Focus, Opel Astra, VW Golf, B-Seller fahren Audi A4, Ford Mondeo, BMW 3er und A-Seller bekommen die Mercedes C-Klasse, einen Audi A4 Kombi oder den BMW 3er Kombi. Bei Übererfüllung der Ziele gibt es darüber hinaus als Mitglied eines sogenannten Erfolgs-Clubs einen einmaligen monetären Bonus. Darüber hinaus nochmals als Mitglied im Top-Club eine attraktive Reise (Roth, S.: Wenn der Audi die Leistung widerspiegelt, in: acquisa, Oktober 2003, S. 58–59). Diese relativ einfach strukturierten Anreizsysteme orientieren sich an Absatz/Umsatz. Sie sind in der Regel da wirksam, wo es um einfache Produkte und kurze Kaufzyklen geht. In dieser Form passen sie bei Würth in idealer Weise. Diese Elemente werden ergänzt durch Lob und Anerkennung in vielen Varianten.

Bedeutung der aus- und Weiterbildung im Verkauf

Wenn ein Unternehmen den Vertrieb als Wettbewerbsfaktor nutzen möchte, braucht es entsprechende Kompetenzen im Verkauf, die andere Unternehmen nicht haben. Würth hat zu diesem Thema einen spezialisierten Manager für die Personalentwicklung im Vertrieb eingesetzt. Aus- und Weiterbildung ist hier erfolgskritisch und muss mit großem Engagement durch das Unternehmen selbst konzipiert und entwickelt werden. Würth hat z.B. zusammen mit der IHK Heilbronn Franken eine spezielle Ausbildung geschaffen. Die künftigen Verkäufer sind 18 Monate im Innendienst von Würth und werden parallel ausgebildet. Sie machen dann im letzten Halbjahr erste Außendiensterfahrung, bevor sie vollständig in den Verkauf wechseln. Hinzu kommt das sogenannte WKM – das Würth-Karriere-Modell, innerhalb dessen die Mitarbeiter im Außendienst sich weiterbilden können. Entweder im Bereich des Produkt-Know-hows oder im Bereich der Menschenführung als Voraussetzung einer späteren Bezirksleiterposition.

Wachstumsorientierte Unternehmenskultur

Würth hat eine wachstumsorientierte Unternehmenskultur geschaffen, in der neben Produkten, Services und Marke auch immer die Vertriebsleistung, deren Organisation, Incentivierung und Motivation im Fokus des Managements steht. Dieses Phänomen zeigt sich selbst in der aktuellen Situation, in der es ja für viele Unternehmen eher schwierig ist. Nach Reinhold Würth ist die Krise eine Frage der Betrachtungsweise: „Wir haben in Deutschland fünf Prozent Marktanteil. Durch die Krise fallen maximal zehn Prozent des Bedarfs weg, dann sind es 15 Prozent, die nicht bearbeitbar sind. Unter dem Strich sind es immer noch 85 Prozent des Marktes, auf denen wir uns austoben können. Wir haben riesige Wachstumspotenziale. Ich habe während meiner 60 Berufsjahre mit Sicherheit acht Krisen erlebt. Bis auf die Krise 2002/2003 sind wir jedes Mal gewachsen.“

Sponsoring, das zum Unternehmen passt

Ein zentrales Instrument für die Wirkung nach innen und außen stellt das Sport-Sponsoring dar, das die Würth-Gruppe seit 1977 konsequent verfolgt. Ausgehend von der eigenen Unternehmenskultur, fördert Würth ausschließlich Team-Sportarten, die sich durch Dynamik, Leistung, Präzision, aber auch Mut und moderne Technik auszeichnen. Die Marke Würth fi ndet sich im Radsport, im Fußball, im Automobilsport sowie im Nordischen Skisport und gewinnt dadurch an Bekanntheit und Sympathie. Darüber hinaus nützt Würth dieses Engagement aber auch zur Förderung seiner Vertriebsleistung, indem die Sportevents zur Kundenbindung und Mitarbeiter-Incentivierung eingesetzt werden.

Analyse und Transfer auf andere Unternehmen

Das Vertriebssystem von Würth erweist sich als stimmiges Gesamtkonzept. Zumindest stimmt es für das Unternehmen Würth. Welche Erkenntnisse ergeben sich für andere Unternehmen?

1. Vertrieb kann Differenzierungs- und damit Wettbewerbsfaktor sein. Viele Unternehmen stehen heute vor der Herausforderung, sich von ihren Wettbewerbern zu differenzieren. In der Vergangenheit dienten ihnen als Grundlage mehr oder weniger einzigartige Produkte oder Dienstleistungen. Das reicht heute in kaum einem Geschäft mehr aus. Der Vertrieb ist eine Variante, aber nicht die einzige. Alternativen sind z.B. ständige Innovation, starke Marken, Internationalisierung usw. In welchen Feldern ein Unternehmen die Differenzierung anstrebt, ist strategisch zu entscheiden. Der Vertrieb ist eine Möglichkeit, aber eben keine triviale, wie die Stellhebel gezeigt haben.

2. Die Rolle von Reinhold Würth als „Gallionsfi gur“ des Unternehmens ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Nur wenn die Geschäftsleitung aus tiefster Überzeugung den Vertrieb in den Mittelpunkt der Strategie rückt und diese Ausrichtung auch tagtäglich vorlebt, kann das Vorhaben gelingen. In vielen Unternehmen bleibt es aber genau aus diesem Grund bei einem Lippenbekenntnis.

3. Die Steuerungssysteme und -strukturen des Unternehmens müssen konsequent auf die Bedürfnisse des vertriebsorientierten Unternehmens ausgerichtet werden. Dazu benötigt der Vertrieb die nötige Macht zur Durchsetzung, dazu müssen Incentivesysteme angepasst werden und dazu müssen auch die Führungsspannen passen. Wichtig ist hier der Fit zwischen den Instrumenten. Das Incentivesystem, das hier vorgestellt wurde, funktioniert z.B. für Würth. Unternehmen in anderen Geschäftsmodellen benötigen andere Konzepte.

4. Synchronisation von harten und weichen Faktoren. Eher weiche Themen, wie Wertschätzung des Vertriebs, Kultur und Sponsoring müssen mit den Systemen abgestimmt sein. Nur so entsteht ein schlüssiges Gesamtkonzept.

5. Mythen und Geschichten zur Kultivierung der Vertriebskultur. Wie erwähnt, gibt es verschiedene Geschichten, an denen vermutlich immer auch etwas Wahres ist. Diese werden bei Würth mit leichter Ironie gepfl egt und tragen auf diese Weise auch zum Mythos bei.

Fazit

Würth hat es geschafft, durch den Vertrieb einen echten Wettbewerbsvorteil aufzubauen. Diese Option steht vielen Unternehmen prinzipiell auch offen. Der Weg zu einer echten vertriebsorientierten Unternehmung ist jedoch anspruchsvoll und darf nicht unterschätzt werden. Für viele Unternehmen bedeutet dieser Ansatz einen echten Strategie- und Kulturwandel, der nur dann gelingt, wenn man ihn aus Überzeugung und mit einer langfristigen Perspektive angeht.

Autorin(nen) / Autor(en):
Leiter des Kompetenzzentrums für Business-to-Business-Marketing, Universität St.Gallen
Universität St.Gallen