Mythomotorik und Mythodiversität

Mythomotorik und Mythodiversität

Zwei gute Neuigkeiten. Deutscher Fundraising Kongress Fulda 2010. Vortrag von Peter Zernisch, gekürzt.

Es gibt Neuigkeiten, zwei Neuigkeiten, die miteinander zusammenhängen. Erstens: Sie können Energie sparen, Zeit und Geld. Zweitens: Sie können als Wettbewerber ums Spendengeld fröhlicher miteinander umgehen. Sie können mehr Freude an Ihrer Arbeit haben. Das sind doch zwei gute Nachrichten. Und die verdanken Sie der Markenforschung. Die verdanken Sie zwei Entdeckungen der Markenforschung: nämlich der Mythomotorik und der Mythodiversität. Beide gehören zusammen, wirken zusammen und verstärken sich wechselseitig. Die Zusammengehörigkeit der beiden Kräfte erkennen Sie schon an dem Wortbestandteil Mytho in beiden Namen. Mythomotorik und Mythodiversität sind zwei Früchte eines Mythos.
Bis heute denkt man bei Marken ja nur ganz selten an einen Mythos und spricht man tatsächlich einmal über den Mythos einer Marke, dann nur sehr unverbindlich, ohne wissenschaftliche und praktische Bedeutung. Dann gebraucht man das Wort mal schwärmerisch, mal misstrauisch, mal verächtlich – aber immer nur emotional – niemals im Verständnis moderner wissenschaftlicher Mythologie. Das allgemeine Unwissen über den Mythos einer Marke ist auch verständlich. Die industrielle Markentechnik ist auf stofflichen, rational erfassbaren Produkten gewachsen, nicht auf geistigen Erscheinungen. Der Ursprung der Markentechnik liegt ja in der Markenartikelindustrie. Also sind fast alle Markenmanager noch davon überzeugt, dass der Ursprung ihrer Marken – ihr „Markenkern“, ihr „genetischer Code“, ihr „Core Value“ – in Produktmerkmalen zu suchen ist und nicht in einem Mythos. Von dem weiß man so gut wie nichts.
Sie haben es leichter als die Markenmanager der Industrie: Sie haben keine Produkte, keine Artikel. Das schützt Sie vor der Meinung, eine Marke und ein Markenartikel seien das Gleiche. Das bewahrt Sie vor dem Materialismus und Rationalismus, der in der Markenartikelindustrie immer noch vorherrscht. Seien Sie stolz darauf, dass man Ihnen Geld gibt für Ihre Markenwerte, ohne dass Sie zusätzlich Produkte liefern müssen, zur Rechtfertigung, zur Rationalisierung Ihrer „Spendensammlung“. Sie dürfen pures Markenmanagement betreiben, Wertemanagement. Die meisten Markenmanager arbeiten heute noch wie Produktmanager. Und das, obwohl schon so viele Marken nicht nur in mehreren Produkten der gleichen Branchen erfolgreich sind, sondern auch in ganz unterschiedlichen Branchen. Nicht einmal die famosen Lizenzgeschäfte mit Designermarken, nicht einmal die vielen Markenwanderungen – von Textilien zu Kosmetik, von Auto zu Leder, von Baumaschinen zu Schuhen – konnten bisher davon überzeugen, dass die Marke eine rein geistige, stofflich ungebundene Kraft ist; dass in einer Marke die Kraft von geistigen Werten wirkt und nicht die Kraft von Produktvorteilen.
Wenn Sie mit Festigkeit Ihre Markenwerte verkaufen, dann können Sie auch aus der Produktwirtschaft Marketingtechnisches lernen und damit die Wirkung Ihrer Marken verstärken. Aber hüten Sie sich davor, die Verstärkertechniken aus dem Marketing wichtiger zu nehmen als die natürlichen Kräfte Ihrer Marken. Hüten Sie sich vor den Fehlern Ihrer Kollegen in der Profitwirtschaft. Die Gefahr liegt darin, dass Sie die Bedeutung der Marketingtechniken überschätzen und damit die natürlichen Kräfte Ihrer Markenwerte unterschätzen. Auch ich habe einmal die Bedeutung der Marketingtechniken überschätzt.
Ich war am Anfang meiner Laufbahn an der Geburtshilfe für die Marke „Misereor“ beteiligt. Meine Beteiligung war die eines eifrigen Marketingtechnikers, weil ich noch viel zu wenig von der Marke wusste. Glücklicherweise war der Entdecker dieser Marke ein großer Mann und ich konnte nicht viel Schlimmes machen. Wahrscheinlich war auch zu wenig Geld da, um Schlimmes machen zu können. Aber ich habe mich damals zu viel mit Sammeltechniken befasst und zu wenig mit den Misereor- Werten, mit dem Sinn von „Zorn und Zärtlichkeit“. Erst später ist mir klar geworden, was wir damals wirklich gemacht haben – und daraus die Konsequenzen:

Eine Marke kann man nicht machen

Ein Unternehmer, gleich welcher Art, hat niemals die Freiheit, eine Marke zu machen wie ein Produkt; er kann auch nicht über vorhandene Markenwerte frei verfügen wie über Produktwerte. Die Werte seiner Marke liegen nicht in seinem Machtbereich, nicht in seiner Firma, seinem Können oder seinem Management, sondern ganz allein in seiner Markengemeinde.
Das war ein wichtiger Erkenntnisschritt. In vielen Unternehmen hat man diesen Erkenntnisschritt heute noch nicht getan und bastelt an Marken wie an Produkten. Und vergeudet viel Geld. Die Hartnäckigkeit der Markenmacher ist menschlich ja verständlich. Da soll auf einmal ein starker, selbstbewusster Macher einen Teil seiner Macht an die Natur zurückgeben. Auf einmal soll er so bescheiden werden wie ein Bauer und soll sich damit abfinden, dass seine Marke ein Naturprodukt ist, ein Produkt der Menschennatur. Das ist eine Zumutung. Bis heute sind es auch noch wenige Menschen im Markenmanagement, die sich mit dieser Zumutung abgefunden haben; die akzeptiert haben, dass die Marke ein Naturprodukt ist und als Naturprodukt nur aufgezogen, aber nicht hergestellt werden kann. 

Aber die sagen es schon: Die Marke entsteht nicht in unserer Firma, sondern in den Köpfen der Verbraucher. Das ist schon ein Fortschritt. Aber nur ein kleiner. Viel besser wäre, man würde sagen: Marken entstehen in den Köpfen von orientierungsbedürftigen Menschen, von Menschen also, die vielleicht einmal Verbraucher werden können. Würde man nicht von Verbrauchern sprechen, dann hätte man tatsächlich einen echten und notwendigen Standortwechsel vollzogen. Dann würde man die Menschen nicht erst nach dem Kauf von Produkten ernst nehmen, sondern schon vorher als problembetroffene Menschen. Dann hätte man tatsächlich den Schritt vom Produzenten zum Dienstleister getan, zum Diener und Problemlöser innerhalb unserer Gesellschaft.

Meinungsforschung ist keine Markenforschung

Die Meinungsforschung hat heute ein hohes Maß an Perfektion erreicht. Die Ergebnisse der Arbeit mit ihren Tools befriedigen jedoch nur selten. Ich habe in meiner Praxis viele Fälle erlebt, in denen die Ergebnisse umso trauriger waren, je perfekter die Tools und professioneller der Umgang mit ihnen war. Leider konnte ich lange keine besseren Tools anbieten, sondern nur eine bessere Theorie. Das ist die Essenz meiner Theorie:

• Jede Meinungsäußerung eines Individuums entspringt seinem Bedürfnis zur Selbstbehauptung.
• Die Meinungsäußerung des Individuums dient dazu, sich gegen Einflüsse zu behaupten, die seine individuellen Freiheitsansprüche beschränken.
• Und alle individuellen Freiheitsansprüche sind durch kollektive Kräfte beschränkt.
• Folglich ist jede Meinungsäußerung über die Kraft einer Marke eine Gegenkraft zu den kollektiven Kräften dieser Marke.
• Folglich ist auch jedes Bild aus Meinungsäußerungen, jedes Image, ein Gegenbild zu kollektiven Kräften, die das Image hervorbringen.
• Folglich ist ein Markenimage kein Abbild einer Marke, sondern ein Gegenbild und gibt keine Auskunft über die Identität einer Marke.

Meinungsforschung über Marken kann also niemals Markenforschung sein, genauso wenig wie Meinungsforschung über Krebs jemals Krebsforschung sein kann. Ist das schwer zu verstehen?

Meinungsforschung über Marken kann niemals Markenforschung sein, genauso wenig wie Meinungsforschung über Krebs jemals Krebsforschung sein kann. Ist das schwer zu verstehen?

Haben wir die Natur als Lehrmeisterin für unsere Arbeit angenommen und uns Menschen selber als Geschöpfe der Natur, dann schaffen wir es, die Grenzen unseres Individualismus zu erkennen. Dann erkennen wir, dass der größte Teil unserer Entscheidungen nicht unserem Bewusstsein und unserer Rationalität entspringt, sondern vorbewusst und vorrational begründet ist, dass die meisten unserer Entscheidungen auf Vorurteilen beruhen. Dann entdecken wir auch, dass wir viele Vorurteile nicht selber entwickelt haben, sondern sie mit vielen anderen Menschen teilen, sie aus Gemeinschaften übernommen haben, ohne es zu bemerken. Dann verstehen wir, dass wir alle nur als winzige Teilhaber an großen Gemeinschaften entscheiden, an Hyper- oder Groß-Organismen, wie die Soziologen sagen. Dass wir unsere Entscheidungen im Auftrag solcher Groß-Organismen treffen und dabei kollektiv sinnvollen Orientierungszeichen folgen – Marken. Sie haben es also nicht mit Individuen zu tun, sondern mit Kollektiven. Deshalb haben so viele persönlich adressierte Spendenangebote so wenig Erfolg: Spender reagieren nicht als Personen, sie reagieren im Auftrag ihres Kollektivs. Natürlich weiß das kein Spender, aber Sie müssen es wissen. Wollen Sie die Sympathisanten Ihrer Markenwerte ökonomisch erreichen, dann haben Sie es nicht mit Personen, sondern mit Kollektiven zu tun. 

Markenforschung muss Kollektivforschung sein

Kollektive sprechen leider nicht, dass ist das technische Hauptproblem der Markenforschung. Sie äußern sich nur über ihre Mitglieder. Was aber einzelne Versuchspersonen als Teilhaber über Kollektive sagen, sind immer irreführende Schutzbehauptungen zum Schutz ihrer Individualität. Also muss Kollektivforschung jede Meinungsäußerung verhindern, Meinungen der Studienleiter inbegriffen. Das ist die erste Anforderung an eine seriöse Kollektivforschung.
Die zweite Anforderung ist nicht leichter zu erfüllen, zumal sie mit der Ersten verbunden ist: Die Befunde über die kollektivbildenden Markenwerte müssen frei sein von den Werten individueller Persönlichkeitsbildung, sie dürfen nicht gemischt geliefert werden. Im sogenannten kollektiven Unbewussten einer Versuchsperson stehen dem Tiefenpsychologen leider nur Mischungen zur Verfügung. Die kollektiven Werte lassen sich folglich nicht durch tiefenpsychologische Explorationen von den individuellen Werten trennen. Sie sind statistisch unbrauchbar.
Nach der Vermeidung von Meinungseinflüssen und von Werte-Mischungen muss eine dritte Forderung erfüllt werden: Die Befunde müssen in der Management- Praxis zuverlässig nutzbar sein. Sie müssen dem Markenmanager als Kontrollmaßstäbe zur Verfügung stehen. Das können sie nur, wenn die Markenwerte statistisch quantifiziert verfügbar sind. Erst wenn eine Kollektivforschung auch die Forderungen erfüllt, die man an eine seriöse Demoskopie stellt, hat der Markenmanager was er für seine Arbeit braucht. Erst dann kann er die Mythomotorik seiner Marke ebenso sicher steuern wie die Meinungen über seine Marke. Das kann er heute. Es gibt heute eine zuverlässige Kollektivforschung für die Management-Praxis.
Der Weg dahin führte über viele Irrtümer und durch viele anthropologische Wissenschaften, durch Soziologie, Psychologie, Biologie bis hin zu den Religionswissenschaften. Erst dort wurde der letzte Erkenntnisbaustein gefunden: In der Mythologie. Die modernen Mythostheorien bestätigen die Evolutionsbiologen darin, dass der Mensch zu allen Zeiten nur in Kollektiven überleben konnte und dabei immer kollektiven Orientierungswerten unterworfen war, den Mythen. Und dass sich daran auch in Zukunft nichts ändern lässt. Wir sind und bleiben kollektiven Existenzbedingungen unterworfen, und zu diesen gehört auch unsere Unterwerfung unter die Macht des Mythos.

Wir können dem Mythos nicht entkommen

Wir müssen den Mythos als Vorläufer des Logos und als seinen ebenso unvermeidlichen wie unverzichtbaren Begleiter akzeptieren. Und weil der Mythos das Kollektiv bildet, bindet, treibt und steuert, deshalb musste Kollektivforschung zwangsläufig Mythosforschung werden. Das müssen wir nicht bedauern, denn die Mythosforschung führte uns zur Entdeckung der motorischen Eigendynamik der Marken, zu ihrer Mythomotorik. Und darüber hinaus zur Mythodiversität. Das ist die schönste Entdeckung, dass die Mythomotorik der einzelnen Marken mit wachsender Markenvielfalt wächst. Jede echte Marke ist ein Mythos, jede hat mythomotorische Kraft. Ein Name ohne mythische Substanz ist keine Marke. Wenn Sie die Mythomotorik Ihrer Marken verstehen und fördern, und sie nicht durch Ungeschicklichkeit verschütten, dann wird es Ihnen nie an Spendern fehlen.

Autorin(nen) / Autor(en):
Geschäftsführer
Zernisch Consultants GmbH