Das "Was bin ich?" der Parteien

Das "Was bin ich?" der Parteien

Markenstrategien, so heißt es, lassen sich nur sehr eingeschränkt auf den politischen Bereich übertragen. Aber ganz so abwegig ist es nicht, die Parteien als Marken und die Wähler als Konsumenten zu begreifen. Das Münchener IMAS-Institut zeigt am Beispiel der Parteien auf, wie man Marken auf Basis ihrer Anhänger differenzieren kann und dabei zu überraschenden Einsichten kommt.

Die (Namens-)Symbole der Parteien haben zweifellos Markencharakter. Wie Konsummarken sollten sie mit möglichst eindeutigen Assoziationen „aufgeladen“ sein, im Sinne einer klaren Orientierung über und Differenzierung von Konzepten und Angeboten. Indes: die Aufrechterhaltung und Pflege konsistenter Markenbilder wird auch für die Parteien immer schwieriger. Stichworte sind das eher laue Interesse an Politik und Markenbotschaften in unserer saturierten Gesellschaft, die Relativierung von Einfluss und Bedeutung nationaler Parteilichkeit in globaler Perspektive, der kommunikative Overload und die mediale Vielfalt, die die Meinungsbildung in unzählige Teilöffentlichkeiten kanalisiert. Hinzu kommt, dass die verzwickten Sachthemen, mit denen sich moderne Politik herumschlagen muss, einer breiten Masse kaum noch nahezubringen sind.
Unter diesen Bedingungen einer vornehmlich „atmosphärischen“ Wahrnehmung von Politik kommt dem symbolischen Gehalt von (Parteien)- Marken als Weltanschauungs- und Wertegemeinschaft eine zentrale Bedeutung zu. Doch in einer hochgradig fragmentierten, pluralistischen Gesellschaft wie der deutschen, die mit einer Individualisierung von Lebensentwürfen, Interessen und Prioritäten einhergeht (bei kommerziellen Marken spricht man analog vom „fraktalen Konsumenten“), wird es zunehmend zur Herausforderung, weltanschauliche Klammern und Normen zu definieren, die einer Allgemeinheit Identifizierungsmöglichkeit und Zugehörigkeitsgefühl erlauben. Diese Orientierungsproblematik ergreift die Parteien selbst, was sich in innerparteilichen Flügelkämpfen und ideologischen Richtungswechseln dokumentiert bis hin zum Phänomen der Piratenpartei, die auf eine ideologische Selbstdefinition a priori verzichtet und gleich an die Wähler delegiert. Immer mehr stellt sich für die Parteien die Frage:

Für wen und was Partei ergreifen?

Früher einmal hatten die traditionellen Parteien (also Konservative/Bürgerliche bzw. Sozialdemokraten) klar unterscheidbare Klientels: Auf der einen Seite Landwirtschaft, Industrie, Gewerbe, Beamte, besitzendes Bürgertum und Adel. Auf der anderen Seite Arbeitnehmer und „kleine Leute“ mit altproletarischen Merkmalen und Verhaltensweisen. Diese Polarisierung nach Klassen im Sinne von Karl Marx gibt es heute nicht mehr. Wahlen werden immer weniger in Anlehnung an eine soziale Gruppierung bzw. „Milieus“ entschieden. Der Rückschluss von einer Klassen- und Berufszugehörigkeit auf das Wahlverhalten ist nur mehr sehr begrenzt möglich.
Aus diesem Grund richtete sich das analytische Interesse des IMAS darauf, wie sich die Wähler der heutigen Parteien in ihren Anschauungen voneinander unterscheiden. Das Wissen darüber ist nicht zuletzt wichtig, um zu sehen, wie gut oder schlecht die Parteien als Regierungspartner zusammenpassen. In einer Koalition kann es schließlich nicht allein darum gehen, ob sich die Führungsgremien auf eine gemeinsame Politik einigen können, sondern auch darum, ob diese Politik der Erwartungshaltung der jeweiligen Wählerschaft entspricht. Das gilt beispielsweise für SPD und Grüne, die ja mit dem Gedanken liebäugeln, die nächste Koalition zu bilden, aus demselben Grund aber auch für CDU/CSU und die FDP.
Einen besonders guten Aufschluss über das mentale Befinden der Wähler bietet das Selbstporträt, das sie von sich zeichnen. Die demoskopische Ermittlung dazu erfolgte mithilfe einer Listenvorlage, auf der insgesamt 30 Verhaltenstypen zur Auswahl standen. Die rund 2000 Befragten konnten dann bestimmen, welchen dieser Gruppen sie sich zugehörig fühlen.
Aus den häufigsten Antworten formt sich ein alles in allem recht biederes Bild mit den unverkennbaren Zügen einer alternden Gesellschaft. Was die Deutschen in erster Linie kennzeichnet, ist eine starke Familienbezogenheit: Nahezu jeder Zweite zählt sich zu den Menschen, denen die Familie viel bedeutet, jeweils zwei Fünftel der Bevölkerung bezeichnen sich überdies als heimatverbunden, häuslich oder bürgerlich; jeder Dritte ist nach eigener Aussage ordnungsliebend, umweltbewusst, weltoffen oder optimistisch. Um eine Spur geringer ist bereits die Identifikation mit denen, die Freude am Neuen und Modernen haben, Unternehmungslust verspüren oder sich der Mittelschicht zugehörig fühlen. In der weiteren Reihung folgen Hinweise auf Sicherheitsoder Zukunftsorientierung. Nur etwa jeder vierte Deutsche sieht sich als Teil der Arbeiterklasse; bestenfalls ein Fünftel der Bevölkerung bescheinigt sich soziales Engagement, politisches Interesse, Europagesinnung oder ausgeprägtes Demokratiebewusstsein. Allenfalls jeder siebente Deutsche beschreibt sich ansonsten als religiös oder multikulturell gesinnt, nur jeder Neunte bis Zehnte als liberal, konservativ, reformfreudig oder intellektuell. Äußerst selten stößt man in der Bundesrepublik – bei lediglich sechs Prozent der Erwachsenen – auf eine extreme Linksorientierung. Ein besonders kleinwüchsiger statistischer Schwächling ist – mit mageren fünf Prozent der Nennungen – der viel zitierte, in seiner Verbreitung jedoch weit überschätzte „Wutbürger“.
Die Durchschnittswerte der Gesamtbevölkerung täuschen zunächst darüber hinweg, dass sich das Selbstverständnis der Deutschen nicht nur nach Geschlecht, Alter und Bildung, sondern in höchstem Maß nach der parteipolitischen Orientierung unterscheidet. Ausgehend von der Überdurchschnittlichkeit der Antworten, vermitteln die IMASBefunde folgende Eindrücke:

Die Wähler von CDU/CSU beschreiben sich in vergleichsweise großer Zahl als religiöse Menschen, wobei diese Selbsteinschätzung mit einem Anteil von lediglich 24 Prozent nicht wirklich eine bedeutende Gemeinsamkeit darstellt. CDU/CSU-Affine sehen sich vor allem als Menschen, denen die Familie besonders viel bedeutet, als Bürgerliche, Traditionsbewusste, Konservative, häusliche Menschen und außerdem als überzeugte Demokraten und Ordnungsliebende. Ein wenig über dem Pegel der Gesamtbevölkerung liegt bei den Anhängern der Unionsparteien auch das Bekenntnis zur Mittelschicht. Etwas unterdurchschnittlich ist in diesen politischen Segmenten hingegen die Neigung, sich mit den Zukunfts-, aber auch mit den Europagesinnten zu identifizieren.

Die Wähler der SPD fühlen sich auffallend stark bei den Sicherheitsorientierten beheimatet. Abgesehen davon bekunden sie eine besondere Nähe zu den Familienmenschen. Von altproletarischer Gesinnung ist bei den heutigen Sozialdemokraten nur mehr wenig zu spüren. Bezeichnend für ihren Bewusstseinswandel im Laufe der Geschichte ist die Tatsache, dass sich genau gleich große Fraktionen innerhalb der SPD in überdurchschnittlicher Zahl einerseits zur Arbeiterklasse und andererseits zur Mittelschicht bekennen. Eine weitere Eigentümlichkeit besteht in analog überdurchschnittlichen Zuordnungen der Sozialdemokraten zu Bürgerlichen und zu Leuten, die in einfachen Verhältnissen leben.
Vergleichsweise seltener als der Bevölkerungsdurchschnitt betrachten sich die SPD-Wähler als religiös, unternehmungslustig, reformfreudig und intellektuell. Kein Zweifel: Die Sozialdemokraten sind nicht mehr eine Partei der revolutionären Feuerköpfe. Alles deutet darauf hin, dass dieser Anhängerschaft Stabilität und Wahrung sozialer Rechte wichtiger sind als reformerische Schwünge.

Die Durchschnittswerte der Gesamtbevölkerung täuschen zunächst darüber hinweg, dass sich das Selbstverständnis der Deutschen nicht nur nach Geschlecht, Alter und Bildung, sondern in höchstem Maß nach der parteipolitischen Orientierung unterscheidet.

Die FDP-Wähler stilisieren sich erwartungsgemäß in extremer Häufigkeit als Liberale. Darüber hinaus geben sie sich in ungemein großer Zahl als Intellektuelle, politisch Interessierte und als Berufsorientierte zu erkennen. Nicht ganz so ausgeprägt ist ihre Übereinstimmung mit bürgerlichen oder häuslichen Menschen. Eine offenkundige Unlust haben die Freien Demokraten, sich als Familienmenschen, Optimisten, Umweltbewusste, Arbeiterklasse oder als betont Zukunftsorientierte zu deklarieren.

Die BD 90/GRÜNEN kontrastieren in ihrem Lebensgefühl ungleich stärker mit dem Empfinden der Bevölkerungsmehrheit, als es bei den Anhängern der „klassischen“ Parteien beobachtet wurde. Weit überdurchschnittlich ist bei den Grünen nicht nur (und nicht einmal in erster Linie) das Umweltbewusstsein, sondern auch die Solidarisierung mit Europagesinnung, multikulturellem Denken, Freude am Neuen, Modernen, Optimismus, Zukunftsorientierung, Weltoffenheit, Unternehmungslust, politischem Interesse, sozialem Engagement, Demokratiebewusstsein und Intellektualität. Vergleichsweise hohe innere Barrieren bestehen bei den Grünen gegenüber den Begriffen Traditionsbewusstsein, Arbeiterklasse, Häuslichkeit und Heimatbewusstsein.

Die Wähler der Linken bescheinigen sich konsequenterweise eine turmhoch über dem statistischen Mittel liegende Linksorientierung. Stark überdurchschnittlich ist überdies ihre gefühlsmäßige Übereinstimmung mit den Weltoffenen, den Familienmenschen, den politisch Interessierten, der Arbeiterklasse und den Ordnungsliebenden. Als untypisch für sich bezeichnen die Linken nicht nur Religiosität, Häuslichkeit, Kunstsinn, Zugehörigkeit zur Mittelschicht und bürgerliches Denken, sondern überraschenderweise auch soziales Engagement. Es ist dies eine Eigenschaft, die die Linken augenscheinlich eher von der Gesellschaft für sich selbst erwarten, als dass sie soziales Engagement anderen angedeihen lassen würden.

Die Anhänger der Piraten präsentierten sich in den IMAS-Daten als die mit Abstand bunteste Fraktion der Bevölkerung, auf deren Denken ihre schäumende und etwas übermütig wirkende Lebensfreude sicherlich mehr Einfluss hat als politische Ratio. Charakteristisch für die Piraten ist eine fast manische Unternehmungslust und Neugier am Neuen und Modernen, eine intensive Zukunftsorientierung sowie eine in dieser Ausprägung abnormal starke Hinwendung zu multikulturellem Zusammenleben. Alles in allem vermitteln die Piraten den Eindruck einer Art von politischer Boheme, die nach ständigen Veränderungen drängt, ohne dafür ein gestalterisches Konzept zu besitzen. Fest steht, dass die explizit bekundete Reformfreudigkeit der Piraten, ebenso wie ihr deklamiertes „Wutbürgertum“ auf der Skala der Verhaltensmuster im Grunde nur eine Staffage oder Pose darstellt.
Fast überflüssig erscheint es zu erwähnen, dass sich die Piraten deutlich seltener als das Gros der Deutschen zu Heimatverbundenen, Traditionsbewussten, Religiösen, Ordnungsliebenden, Angehörigen der Mittelschicht und außerdem zu sicherheitsorientierten sowie häuslichen Menschen zählen.

Natürlich reizt es, im Sinne einer Distanzanalyse Nachschau zu halten, wie sehr sich das Selbstporträt der Wählerschaften insgesamt voneinander unterscheidet. Dazu hat das IMAS aus den vorliegenden Einschätzungen die mittlere Abweichung der Antwortniveaus errechnet und kommt zu überraschenden Einsichten: So zeigt sich, dass zwischen den Anhängern der klassischen Großparteien CDU/CSU und SPD, – nicht zuletzt wegen des höheren Lebensalters beider Wählerschaften – in vielen Belangen eine stärkere Wesensverwandtschaft existiert als zwischen Sozialdemokraten und den ebenfalls linksorientierten Grünen, Linken und Piraten.
Des Weiteren sind die Mentalitätsunterschiede zwischen den CDU/CSU-Wählern und den Anhängern der Linken, die sich zwar weniger als „Bürgerliche“ verstehen, aber ansonsten wertkonservative Selbsteinschätzungen teilen, gar nicht so groß, wie man annehmen möchte – jedenfalls geringer als zwischen CDU/ CSU und FDP.
Relativ große mentale Schnittmengen gibt es zwischen Grünen und Piraten, während Piraten und Die Linken (dies wird Katja Kipping und Bernd Schlömer sicherlich interessieren) in ihrer Selbstsicht weit auseinander liegen. Für den politischen Verdrängungswettbewerb eröffnen sich damit neue Perspektiven.

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Autorin(nen) / Autor(en):
Geschäftsführer
IMAS international, München