Zukunft der Marke – Warenverfügbarkeit 2.0: Sieg der verfügbaren Marke

Zukunft der Marke – Warenverfügbarkeit 2.0: Sieg der verfügbaren Marke

Neulich im Untergrund von Seoul: 600 Menschen warten auf ihre U-Bahn. Seltsam nur: 200 davon warten nicht, sondern fummeln mit ihrem Smartphone vor der Betonwand des U-Bahn-Tunnels herum. Fummeln? Nein: Sie kaufen ein. Sie knipsen die Bilder der gewünschten Produkte von der Tunnelwand ab und funken sie an den Supermarkt in ihrer Nachbarschaft. Wenn sie am Abend nach Hause kommen, steht der Karton mit ihren Einkäufen vor der Wohnungstür: Et voilà, der Einkauf der Zukunft ist hundert Prozent Convenience, das heißt Supply Chain. Wo bleibt die Marke?

Visionieren wir mit stillem Schaudern den Worst Case der Markenzukunft: Der beste, wohlschmeckendste und millionenschwer beworbene Schoko- Riegel der zukünftigen Welt mit einer Markenbekanntheit von 98 Prozent bleibt im Regal liegen, weil das Smartphone ihn nicht erfassen kann. Gewiss: ein haltlos übertriebenes Szenario. Doch in seiner Extremität beschreibt es die Markenherausforderung von morgen: Die Marke der Zukunft braucht die Supply Chain der Zukunft. Wie wird diese Zukunft aussehen? Eine brandneue Studie des Center für Zukunftsforschung (CEFU) der EBS Business School gemeinsam mit Procter & Gamble Deutschland gibt Antwort.

Blick in die Zukunft

Für ihre Studie befragten die Zukunftsforscher 82 Top- Entscheider der ersten und zweiten Führungsebene aus den Bereichen Konsumgüterherstellung, Handel, Hochschule, Konsumforschung, Logistikdienstleistung, IT, Beratung, Politik und Verbände. Im Mittelpunkt der Studie mit dem Titel Warenverfügbarkeit 2.0 – Szenarien für die Konsumgüterbranche 2030 steht die Frage: Wie werden die Megatrends von heute die Konsumgüterbranche, deren Marken und ihre Supply Chains bis zum Jahr 2030 prägen? Die Forscher konkretisierten diese Trends und ihre Entwicklung anhand von 16 provokanten Thesen, den sogenannten Projektionen, zum Beispiel: „E-Commerce hat im Jahr 2030 den Vertrieb von Trockensortimenten (Wasch-, Putz- und Reinigungsmittel, Kosmetika, Windeln …) über den stationären Handel verdrängt.“ Oder auch: „Ladenlokale des stationären Handels sind zunehmend zu Concept Stores für Test und Beratung umgewandelt worden.“ Steile Thesen. Was sagen die Auguren dazu?

Eine einfache, schnelle und kooperative Lösung. Zukunftsmusik? Im Handel vielleicht. Andere Branchen sind schon in dieser Zukunft angelangt. Die Luftfahrt zum Beispiel.

Der Feind von gut heißt gut gemeint

Die Expertenmeinungen zu den 16 Projektionen lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Im Jahr 2030 macht auch die Supply Chain die Marke. Die Versorgungskette wird integraler Bestandteil der Markenpolitik. Sie wird eine zukunftsentscheidende Komponente der Marke. Branchenfreundlich als Slogan formuliert: Warenverfügbarkeit macht die Marke. Deshalb sagten viele Markenexperten bei ihrer Befragung: „Wir müssen und werden noch viel stärker als bisher die vertikale Kooperation entlang unserer Supply Chain vorantreiben.“ Der Haken daran: Bislang ist das noch eher Vision als Strategie. Denn bislang verfolgen Hersteller und Händler, Logistiker, Politiker und Verbände zwar durchweg gute Absichten, gerieren sich als glühende Apologeten der Warenverfügbarkeit 2.0, beschreiten in den Niederungen der strategischen und operativen Wirklichkeit aber immer noch recht unterschiedliche Pfade zum Kunden. Sehen die Supply-Chain-Partner das nicht? Sehen vielleicht, aber nicht im Sinne einer bewussten Wahrnehmung. Das liegt am Mindset.

Unterschiedlicher Mindset

Die befragten Wissenschaftler zum Beispiel zeichnen sich durch ausgesprochenen Technologie-Optimismus aus. Sie schauen nach Seoul und glauben, Warenverfügbarkeit 2.0 käme schon allein dadurch zustande, dass jeder Mensch künftig mit einem Smartphone durch die Gegend läuft: Technologie als Enabler der Warenverfügbarkeit von morgen. Probleme sieht die Wissenschaft dagegen bei der Innenstadtversorgung: Je verstopfter, regulierter und abgasvernormter die Innenstädte werden, desto schwieriger wird aus ihrer Sicht die urbane Versorgung. Das sieht der Handel anders: Er glaubt an seine in der Vergangenheit bewiesene Adaptionsfähigkeit. Man passt sich eben an, wie man sich immer schon an wandelnde Verhältnisse angepasst hat. Die Hersteller wiederum rechnen stark damit, dass der Konsument der Zukunft mit der Marke auch viel stärker noch als bisher individuelle Beratung und innovativen Mehrwert fordern wird, was auch seine altersgerecht differenzierte Ansprache einschließt. Die befragten Logistiker ihrerseits fordern vehement Technologie- Innovationen und versprechen sich davon umwälzende Einfl üsse auf die Markenwahrnehmung. Im Gegensatz zu allen anderen Experten finden sie das Business-Modell des Concept Store attraktiv. Politiker und Verbände schließlich erweisen sich als Strukturbruch- Skeptiker. Ihr Credo: „Es gibt keine Markenrevolution. Alles entwickelt sich peu à peu.“ Oder wie einer der befragten Politiker formulierte: „Vieles wird herbeigeredet und dann dauert es doch wieder zehn Jahre!“ Fazit: Jede befragte Expertengruppe hat einen anderen Mindset zur Warenverfügbarkeit 2.0. Das hat Folgen.

Das passt nicht

Es liegt auf der Hand, dass bei dieser uneinheitlichen Mindset-Gemengelage selbstverständliche Fragen der strategischen Orientierung von Versorgungsketten unbeantwortet bleiben. Fragen wie: Wer übernimmt eigentlich den Lead in die Markenzukunft? Wer müsste, sollte oder könnte? Diese mangelnde Klärung hält die Avantgardisten unter den Herstellern nicht davon ab, bereits an der Intensivierung der Kooperation entlang ihrer Supply Chains zu arbeiten. Einige haben sich zum Beispiel im House of Logistics and Mobility (HOLM) am Frankfurter Flughafen zu sogenannten Innovation Circles zusammengefunden, in denen sie Konzeption und Kooperation der neuen Warenverfügbarkeit vorantreiben. Es werden Szenarien gefahren, Projektlandkarten entworfen, Road Maps skizziert und die Intensivkooperation geprobt. Das geht bis hin zur Revolutionierung der Personalentwicklung.

Revolution im Training

Sichtbarstes Zeichen der neuen Intensität bei der vertikalen Kooperation ist die sogenannte Supply Chain Academy. Wo bislang zum Beispiel lediglich die Produktmanager eines Herstellers im Seminarsaal saßen, sitzen an der firmen- und wertschöpfungsstufenübergreifenden Academy zusammen mit ihnen neuerdings auch Vertreter von Händlern, Vertriebsmittlern, Logistikern, Verbänden, Wissenschaft und Politik. Es trainiert zusammen, wer zusammen arbeitet. Dabei bildet sich ein ganz neues Wir-Gefühl, ein gemeinsames Verständnis der Supply Chain, auch und gerade ein Verständnis für die Prozesse der anderen Partner, eine stärkere Awareness für die neue Warenverfügbarkeit und vor allem eine höhere Kooperationskompetenz: Wie will man entlang einer Supply Chain intensiver kooperieren, wenn man noch nicht einmal zusammen trainieren kann oder will? Wobei die Einrichtung einer Supply Chain Academy nicht maßgeblich ist. Maßgeblich ist vielmehr die neue Art der Kooperation.

Upgrade-Kooperation

Kooperation ist nichts Neues. Entscheidend für den Schritt in die Markenzukunft ist jedoch nicht das alte Modell der Kooperation, sondern sind neue Innovations- Kooperationen. Kooperationen, in denen wertschöpfungsstufenübergreifend an Szenarien für die Markenzukunft gefeilt wird, in denen künftige Risiken aber auch Chancen entlang der kompletten Supply Chain identifiziert und gemanagt werden und in denen die nötige Zukunftskompetenz entwickelt wird. Eine Kompetenz, die das Beherrschen der nötigen Future Tools einschließt, die sich nicht nur auf die bekannten Trend-Extrapolationen und Forecasts beschränken, sondern auch moderne Instrumente wie Backcasting, Roadmapping, Delphi, Prognosemärkte oder Trenddatenbanken umfassen: No Tools – no Future.

Andere Konkurrenz

Heute noch konkurrieren Markenhersteller mit Markenherstellern. In Zukunft konkurrieren Supply Chains miteinander. Weil nicht mehr das Einzelunternehmen, sondern die Summe seiner Versorgungsketten und das Zusammenspiel ihrer Partner entscheidend sind. Das muss jeder Partner entlang einer Supply Chain aber erst einmal erkennen, verstehen, nachvollziehen und vor allem nachrechnen können. Das setzt Vertrauen voraus, das sich zum Beispiel auch im Cost-Benefi t-Sharing entlang einer Supply Chain manifestiert. Eine enorme Voraussetzung? Das ist noch konservativ formuliert. Denn bislang waren vertikale Kooperationen meist vom Ober/ Unter-Paradigma geprägt. Alles was nach dem Hersteller kam, galt bislang nicht als Partner, sondern oft lediglich als notwendiges Übel. Dieses Denken hat keine Zukunft, wie die Studie belegt. Warenverfügbarkeit 2.0 braucht ein neues Verständnis und vor allem eine neue Praxis der Kooperation: nicht mehr hierarchisch, machtzentriert oder antagonistisch, sondern partnerschaftlich. Das ist sehr abstrakt? Dann konkretisieren wir das.

Shelf out of Stock

Nichts ist konkreter als ein Shelf out of stock: Im Supermarkt in Großkleinstadt fehlt die Zahnpasta „Knallweiß“ im Regal. Der perfekte Substitutionsfall: Der Konsument nimmt einfach die Tube daneben, die Marke „Knallweiß“ hat versagt. Und nicht einmal die Marke an sich, sondern ihre Verfügbarkeit, sprich ihre Supply Chain. Die komplizierte Lösung des Falls wäre nun der übliche Dienstweg: Wo hat’s gehakt? Steckt der Lkw im Stau? Ist die Palette noch nicht ins Regal geräumt? Gibt es Produktionsprobleme? Probleme mit der IT? Die übliche Detektivarbeit auf der Hinterbühne eben. Mit diesem macht die Warenverfügbarkeit 2.0 Schluss. Idealerweise arbeitet sie mit einer ganz einfachen Lösung, die jedoch ohne das neue, kollegiale Kooperationsverständnis nicht möglich wäre: Das intelligente Regalfach im Supermarkt löst automatisch bei Erreichen eines kritischen Regalbestandes im Warenwirtschaftssystem eine Bestellung oder Nachverräumung aus: eine einfache, schnelle und kooperative Lösung. Eine einfache, schnelle und kooperative Lösung. Zukunftsmusik? Im Handel vielleicht. Andere Branchen sind schon in dieser Zukunft angelangt. Die Luftfahrt zum Beispiel.

Star Alliance

Die Star Alliance ist eine Kooperation der Lufthansa und Dutzender anderer Fluggesellschaften, die bereits nach dem neuen Modell kooperieren. Das zeigt zum Beispiel die gemeinsame IT-Basis, auf die alle Kooperationspartner zugreifen – im Handel noch keine verbreitete Lösung. Außerdem gleichen die Partner ihre Qualitätsstandards an, managen gemeinsam Flotten-, Ersatzteilbestellungen und Flottenleasing. Resultat der Supply Chain Integration: Die einzelne Marke innerhalb der Kooperation kann ihren Kunden höhere Benefi ts zu besseren Preisen anbieten. Die Supply Chain pusht die Marke et vice versa. Ein Vorteil insbesondere für kleine Marken. Blue1 aus Finnland oder TAP Portugal – noch nie gehört? Wer hätte das schon? Aber: Beide Fluggesellschaften sind in der Star Alliance und damit auf demselben Marken-Level wie Lufthansa – das beeindruckt den Kunden: Die kooperative Supply Chain pusht zudem kleine Marken und auch – auf die Konsummarke übertragen – Newcomer innerhalb von Markenfamilien. Das gilt schon heute und noch viel mehr in einer Zukunft, die viele neue Vertriebskanäle bietet: vom E-Commerce über den M-Commerce (Mobile Commerce via Smartphone) bis hin zum F-Commerce (Integration von Webshops in Facebook und Co.).

Fazit: Marke der Zukunft

Die Strahlkraft der Marke verblasst auch in Zukunft nicht. Doch sie strahlt nur dann ungebrochen und glänzender denn je, wenn sie in eine Supply Chain eingebettet ist, die den Erfordernissen der Warenverfügbarkeit 2.0 genügt. Die Benefi ts dieser neuen Verfügbarkeit sind für alle Beteiligten enorm: Shoppen in der U-Bahn, an Häuserfassaden, im Taxi … Der Konsum durchbricht alle Grenzen. Doch die Voraussetzungen dafür sind beim gegebenen Mindset der Partner entlang der Supply Chains eine echte Herausforderung: Das Master and Commander-Modell hat nicht nur ausgedient, es ist geradezu eine Bedrohung der Markenzukunft. Die Zukunft wird nur jene Marken als stark erleben, die sich nicht nur für die eigene Marke stark machen, sondern auch und insbesondere für ihre Supply Chain. Die Markenmacht von heute schafft den Übergang in die Zukunft nur dann, wenn sie marktmächtige Partner neben sich nicht nur erlaubt, sondern fördert und sich mit ihnen gemeinsam und innovativ entwickelt.

BEZUG DER StUDiE

Bei Interesse kann die Studie „Warenverfügbarkeit 2.0: Szenarien für die Konsumgüterbranche“ bei P&G Deutschland angefordert werden. Interessenten wenden sich bitte an Frau Roszak: roszak.s@pg.com

Bei Interesse an den FMCG Innovation Circles wenden Sie sich bitte an Dr. Heiko von der Gracht: icircle.fmcg@frankfurt-holm.de



 

litERatURhinWEiSE:

CEFU/P&G (2011) Warenverfügbarkeit 2.0: Szenarien für die Konsumgüterbranche 2030. Center für Zukunftsforschung und Wissensmanagement (CEFU), Wiesbaden.
GS1 Germany (2009) Roadmap zur Value Chain 2016 in Deutschland. Treffpunkt Zukunft.
GDI Gottlieb Duttweiler Institut (2007) Shopping and the City 2020 – Wie die Städte von morgen Konsumenten anziehen. GDI Gottlieb Duttweiler Institut.
The Consumer Goods Forum, Capgemini, HP, Microsoft (2011) Future Value Chain 2020 – Building strategies for a new decade.

Autorin(nen) / Autor(en):
Direktor, Center für Zukunftsforschung und Wissensmanagement
Supply Chain Management Institute (SMI)
Geschäftsführer, Vorsitzender des Aufsichtsrats
Procter & Gamble; GS1 Germany Gmbh