Kunde statt Produkt

Kunde statt Produkt

Hersteller und Dienstleister feilen an erster Stelle an ihrer Produktleistung und können sich doch zumeist über ihr Kernangebot kaum noch ausreichend differenzieren. Sie haben ihr Unternehmen trotzdem nicht genügend auf die verschiedenen Kunden zentriert. Strukturelle Veränderungen in allen Märkten zwingen jedoch zu „Kunde statt Produkt“ und einem neuen Geschäftsmodell. Customer Centricity ist der unternehmerische, organisatorische, strategische und operative Ansatz, der Unternehmen erfolgreich in die Zukunft trägt.

Die Vergangenheit holt Mitteleuropa ein: Stolz auf seine Ingenieursleistungen, selbstbewusst auf die Prozess-Sicherheit in der Dienstleistung haben Unternehmen ihre ganze Strategie darauf ausgerichtet. Dabei laufen Patente ohne Nachfolger aus oder Produkte differenzieren nicht genügend. Darum werden zum „Aufladen“ des Produkts rund um das Angebot Services eingesetzt. Doch unsere Analysen in Unternehmen zeigen ein verheerendes Bild: Viele Services werden vom Kunden nicht abgerufen, sondern ihm „aufgedrängt“. Etliche wiederum vom kaufenden Unternehmen sehr gerne genommen, jedoch weder direkt noch über das Produkt bezahlt. Letztendlich wird nur der Deckungsbeitrag verringert.

Kundenorientierung: vom Produkt her reklamiert

Theodore Levitt hat schon sehr frühzeitig darauf hingewiesen: „Industrie ist ein Prozess, bei dem der Kunde zufriedengestellt wird, nicht ein Prozess, bei dem Güter (oder Services) produziert werden.“ (The Marketing Imagination, 1983). Er beschrieb vier Produktbegriffe:

  1. Das Produkt, wie Flugzeug, Arzneimittel, Werkzeugmaschine, Schließanlagen, Trinkmilch oder Toilettenpapier
  2. Das erwartete Produkt mit richtigen Lieferzeiten, Zahlungsbedingungen, technischer Unterstützung
  3. Das erweiterte Produkt mit Elementen der Attraktivität wie eventuell besonderen Abrechnungssystemen
  4. Das potenzielle Produkt mit der Chance, neue latente Bedürfnisse zu befriedigen.

Levitt hätte diesen Ansatz wie die meisten Unternehmen als Kundenorientierung ausgerufen. Andere reklamieren CRM-Systeme als Kundenzentrierung. Customer Centricity ist jedoch mehr als Kundenorientierung vom Produkt aus.

Customer Centricity: kompletter Wandel des Unternehmens

Eine glaubhafte Kundenzentrierung bedeutet einen neuen Management- und Führungsansatz. Customer Centricity bedarf einer Systematik und einer Nomenklatur, die sich zum Teil von der jetzigen auch fundamental unterscheidet. Customer Centricity (CC)

• ist die Ausrichtung eines Unternehmens in seiner Gesamtheit (!) auf die Bedürfnisse und Verhaltensweisen der Kunden – und nicht auf die internen Treiber (wie nach kurzfristigem Profit)
• denkt, plant und steuert vom Kunden in das Unternehmen hinein, nicht von Produkt/Dienstleistung oder der Marke aus dem Unternehmen heraus
• schaut nicht auf Kundenkohorten, sondern plant vom Einzelkunden. Die Grundidee besteht darin, jeden einzelnen Kunden separat und individuell zu behandeln. Nicht bis ins letzte Detail einer maßgeschneiderten Produktion oder Dienstleistung – aber dennoch für den Kunden durch „Zusammenstellung“ erkennbar individuell. Jeder Einzelkunde bekommt eine dem Wesen nach standardisierte und modularisierte auf seine Bedürfnisse abgestimmte, individualisierte Leistung
• umfasst das gesamte Unternehmen in den Bereichen Strategie, Leistungsversprechen (Vertrieb, Marke ting, Kommunikation) und Leistungserfüllung (Disposition, Make and Buy, Produktion, Logistik) ist eine Unternehmens- und Führungsstrategie, 
•  ist eine Unternehmens- und Führungsstrategie, das Unternehmen ganzheitlich vom Kunden her zu verstehen und zu führen. CC ist damit eine funktions und geschäftsmodellübergreifende Strategie mit sehr präzisen operativen Auswirkungen.

Durch CC werden das interne und externe Kundenverständnis und die Kundenbeziehung konsequent aufgebaut. Alle Beschlüsse des Managements gehen durch den CC-Fokus. Die gesamte Organisation wird als Plattform für die Erfüllung der Einzel-Kundenwünsche konfiguriert.

Kunde: will Werte, nicht Produkte

Was kauft eigentlich Ihr Kunde? Nur drei Werte sind es, sagt das Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung. Und nur zwei davon versprechen unbegrenztes Wachstum … Viele Produkte oder Dienstleistungen braucht der Kunde gar nicht oder nicht von uns als Anbieter. Der Überfluss ist überall. Mangelmärkte sind selten. Und doch kaufen sowohl Endverbraucher als auch im harten Profigeschäft des B-to-B Unternehmen immer mehr Güter, sogar sogenannte „höherwertige“ Güter. Welche Werte treiben sie dazu an?
Der Rationalismus, der unverbrüchliche Glaube an den homo oeconomicus hat uns dazu gebracht, den ersten Wert gegenüber Verbraucher und kaufenden Unternehmen besonders auszuarbeiten:
1. Der funktionale Wert: Diesen Wert kennen wir im B-to-B besonders. Der Reifen rollt lange, die Feder hält länger. Der Vertrieb kommuniziert Features und deren Wirkung, Kosten, Systemkosten, Anwenderfreundlichkeit. Aus der Sicht des Käufers sind das Investitionen, um damit selbst zu verdienen. Hier lässt sich der Wert direkt in Geld als Nutzen ausdrücken.
2. Der positionale Wert: Neben dem funktionalen Wert ist hier wichtig, dass der Käufer sich selbst positioniert und seinen Status darstellt. Es geht darum, sich sozial in einer Gruppe darzustellen und Position zu beziehen. „Wir kaufen nur bei Marktführern“ ist so eine Aussage. Die „Marke“, oder noch imaginärer, „die Qualität“ wird hier häufig angeführt. Der persönliche Kontakt zum bekannten Inhaber eines Unternehmens punktet hier. Die Einladung in einen geschlossenen Management- Kreis, den man sich durch Einkauf eines Produktes „mit“-erwirbt.
3. Der imaginative Wert: Er beschreibt eine Wertform, die die Vorstellungen einer Nähe zu ansonsten unerreichbaren Orten, Personen oder auch Idealen hervorrufen. Extrem sind die Lotterielose beim Endverbraucher, der gar nicht glaubt, dass er gewinnt, aber in die Nähe der Reichen rückt.

Industrie ist ein Prozess, bei dem der Kunde zufriedengestellt wird, nicht ein Prozess, bei dem Güter (oder Services) produziert werden. Theodore Levitt

Nachhaltigkeit ist in dieser Kategorie zu finden, bei dem der Käufer sich als Retter der Welt empfinden kann. Wenn er selber dieses auch noch groß bewirbt, so nutzt er den imaginativen Wert gleichzeitig als positionale Wertform. Herkunftsbezeichnungen wie „Made in Germany“ basieren darauf. Mode arbeitet mit diesem Ansatz – aber auch im B-to-B ist es vorteilhaft, einen internationalen Designer genutzt zu haben – ohne dass jetzt die Funktion besser geworden sein muss. Wie Jens Beckert, Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, betont, basiert das heutige Wirtschaftswachstum in wesentlichen Teilen in der industrialisierten Welt auf den Wertformen der positionalen und imaginativen Werte. Ökonomie ist nicht nur rational, sondern findet auch auf gesellschaftlichen Symbolwerten statt, die als Wert klassifiziert werden. Wer sich zukünftig zu stark von ihnen löst, riskiert die Unternehmensexistenz. Umgekehrt heißt es, diese Werte zu nutzen. Beckert: „Auf diesen Märkten gibt es keine Grenzen des Wachstums, weil der Wunsch nach symbolischer Überbietung unendlich ist.“ Im Customer-Centricity-Ansatz gilt es zu verstehen, dass „Qualität“ Produkten und Dienstleistungen nicht automatisch innewohnt, sondern individuelle Bedeutungen bei jedem Einzelkunden (!) hat. Er bestimmt den Wert und die Wertform, nicht das Angebot an sich.

 

Leistungsversprechen: Den Kunden, nicht das Produkt bestens kennen

Was und wer ist überhaupt ein Kunde? Ist es nicht erstaunlich, wie aufgeregt in Unternehmen bei dieser kleinen Frage schon diskutiert wird? Ist ein Kunde jeder Account? Ist die einkaufende Stelle der Kunde, die aber an drei Lieferstellen mit eigenen Accounts liefern lässt? Sind nicht-kaufende, potenzielle Kunden eigentlich Kunden? Sind Kunden, die mal gekauft haben aber dann lange nicht mehr (noch) Kunden? Und: Sind Empfehler, Behörden, Zulassungsstellen, Zwischenhändler oder auch im B-to-B Endabnehmer/Verbraucher Kunden?
Das individuelle Kundenverständnis ist der Start zu Customer Centricity, nicht das Produkt- oder Markenverständnis. Zunächst werden in der Regel alle Kundentypen nach ihrer unternehmenseigenen Definition so weit wie möglich einzeln erfasst. Ob 400, 4000 oder 40 000. In einem Metallurgieunternehmen sagte man uns, dass es weltweit nur 200 Unternehmen gäbe – die würde man alle kennen und genauestens bedienen. Innerhalb von 14 Tagen fanden wir wichtige weitere 2000. Was war geschehen? Man definierte z.B. einen Flugzeughersteller als einen Kunden. Wir fanden in dem Airplan-Konzern über sieben weitere – und der Metallurg baute innerhalb von drei Monaten seine USA-Repräsentanz auf. Nur über ein völlig neues Verständnis zu Einzelkunden.

Den durchschnittlichen Kunden gibt es nicht – deshalb behandeln wir ihn auch nicht durchschnittlich

Was beschreibt eigentlich den Bedarf eines Kunden? Beschreibt unser Produkt selbst im weiten Levitt-Sinne (s.o.) wirklich das, was der Kunde will? Tatsächlich ist es doch oft nur das, was unser Unternehmen ihm anbieten will. Also die Angebotsklasse. Doch der Kunde denkt anders, nämlich im Sinne seiner Bedürfnisse und Bedarfe. Er formuliert Nachfrageklassen. Mit einem Key Accounter gingen wir in ein Jahresgespräch. Wir hatten das Gefühl, dass man aneinander vorbeiredete. Also fragten wir, wofür der Einkäufer zuständig sei. „Garten“ war die Antwort. Unser „Garten“-Key-Accounter atmete auf. Doch als er sah, dass „Garten“ bei seinem Kunden Stühle, Bänke, Tische, Pflanztöpfe aus Spritzguss, aus Terrakotta usw. umfasst, wurde ihm als reiner „Pflanztopfanbieter aus Spritzguss“ bewusst, dass er nur wenig zu diesem Nachfragevolumen beizutragen hatte. Er war nur D-Lieferant, wenn er auch in seinem engen Segment tatsächlich Marktführer war. Diese strategische Lücke ist immer vorhanden und wird selten erfasst. Sie zu überdenken, ist Aufgabe von Licence, M&A, Innovationsmanagement, Handel – das Leistungsversprechen (Vertrieb, Marketing, Kommunikation) kann hier wenig beitragen.
Warum ist beim Kunden der Marktanteil unwichtig? Nehmen wir einen Marktführer mit 31 Prozent Marktanteil an. Und stellen wir uns zwei Einzelkunden vor: Der eine hat ein Einkaufsvolumen von 1000 Einheiten, kauft aber beim Marktführer nur 100. Mit anderen Worten – 900 Einheiten kauft er bei Wettbewerbern. Der Kundenanteil des Marktführers bei diesem Kunden beträgt also nur zehn Prozent. Wahrscheinlich ist der Marktführer C-Lieferant. Sollte er nicht hier individuell ansetzen und nicht sosehr die Kohorte (Marktanteile) betrachten? Ein anderer Kunde mit 400 Einheiten kauft bei ihm 300 Einheiten, also 75 Prozent. Mit diesem Kundenanteil ist der Marktführer sehr zufrieden. Schließlich kauft dieser Kunde dreimal so viel wie der andere. Und doch sollte der Marktführer sehen, dass die Potenziale seines kleinen Kunden noch 900 Einheiten und die seines großen Kunden nur noch 100 Einheiten sind. Er muss beide Kunden einzeln genau analysieren, und in ein Kundenanteils- oder Potenzialmanagement überführen. Den Marktanteil als Planungsgröße kann der Marktführer getrost vergessen. Alleine diese Fragen zeigen, dass organisatorisch, strategisch und operativ Customer Centricity zunächst ein Wandelkonzept benötigt, das viele Detailfragen aufgreift und eventuell neu beantwortet.

 

Leistungserfüllung: Probleme erkennt man im Vertrieb

Leistungserfüllung sind die Bereiche Disposition, Beschaffung, Produktion, Logistik. Auch diese sollen im CC-System ganz auf den individuellen Kunden ausgerichtet sein. Ob das gelingt, muss man nicht immer in diesen Bereichen selbst erkunden. Es reicht oft ein Blick zum Front-End, nämlich zum Bereich Leistungsversprechen. Der Lackmus ist Maverick Selling, das Verkaufen am strategisch gut durchdachten und operativ standardisierten Verkaufsprozess vorbei. Das ist nicht nur bedeutsam, weil direkt Geld verloren geht, nicht nur weil Ressourcen in hohem Maß falsch gebunden – sondern weil alte Kunden nicht ausgeschöpft und neue strategisch zu selten erfolgreich gewonnen und entwickelt werden.
Sieben harte Indikatoren geben nach unseren Erkenntnissen Aufschluss über Maverick Selling und damit über eine ungenügende Planung, Organisation im CC-System bis in die Produktion hinein: Der Vertrieb sagt immer wieder Liefermengen zu, die zum vereinbarten Lieferzeitpunkt nicht eingehalten werden können.

  1. Der Vertrieb sagt Lieferzeiten zu, die öfter beim Vertragsabschluss bereits als obsolet erkannt werden, wenn man nicht die Disposition völlig neu aufstellt.
  2. Der Vertrieb ordert auf vorhandene Bestellungen erhöhte Mengen, um diese schneller zu erhalten. Er ändert die Auftragsmenge kurz vor Auslieferung – und verkauft „den Überschuss“ schnell, praktisch ab einem nicht vorhandenen Lager, an einen anderen Kunden
  3. Der Vertrieb macht zwar formal „harte“ Preise, aber eigenständige Konditionenzusagen – außerhalb von Kalkulation und Konditionenpolitik
  4. Der Außendienstmitarbeiter versucht für „seine“ Kunden, direkten Einfluss auf die Lieferung bei Disposition, Lager und Produktion zu nehmen, um „seine“ Kundenaufträge im Lieferprozess bevorzugt durchzuschleusen.
  5. Der Vertrieb sagt „leichte“ Produktvariationen oder -änderungen zu, die von der Produktion nur unter hohem Aufwand bewerkstelligt werden können.
  6. Der Außendienstmitarbeiter verkauft Produkte weiter, die schon aus einer „Produkt-Penner“-Liste gestrichen wurden.

Manchmal sind diese Indikatoren im Unternehmen nicht unbekannt, jedoch kann der Vertrieb einen so hohen Widerstand zu Veränderungen aufbauen, dass Konsequenzen und Transparenz nicht durchgesetzt werden. Immer mit dem Glaubensdruck, man würde Kunden verlieren. Wenn Sie in Ihrem Unternehmen nur zu einem dieser Indikatoren „Ja“ sagen, so ist bereits Maverick Selling im Gang und sollte unbedingt tiefer untersucht werden. Kundentreue und Ertrag werden es gleichermaßen belohnen. Die Erfahrung zeigt, dass Unternehmen zehn bis unglaubliche 35 Prozent Maverick Selling aufweisen – obwohl man es selten wahrhaben will.

Customer Centricity: vom Einzelkunden ins eigene Gesamtunternehmen gedacht

Gerade Marken- oder Produktverantwortlichen fällt es mit dem heutigen Real-Verständnis zu ihren Positionen schwer zu verstehen, dass auch sie nicht der Motor des Geschäftes sind, sondern nur der Kunde. Tatsächlich zählt nicht das Kundensegment, sondern nur der Einzelkunden, denn er zahlt.
Der Customer-Centricity-Ansatz will eine Gesamtorganisation (vom Vertrieb/Marketing bis zur Produktion), die auf die Bedürfnisse der Nachfrageklassen jedes Einzelkunden in schnellster Geschwindigkeit reagieren kann. Der Kern von CC liegt in dem Gedanken, dass Kundenzugang wichtiger als das Produkt ist, wobei faszinierende Best-Class-Marktleistungen natürlich wichtig bleiben.
Es deckt sich jedoch auch mit den Erfahrungen von Merger & Akquisition, dass deutlich mehr Kundenzugänge als Produkte gekauft und kapitalisiert werden. Das einzige Profit-Center ist der Kunde.

Autorin(nen) / Autor(en):
Senior Partner
Erfolgsketten Management